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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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Blickfeld. Ich verstehe vollkommen, wie dir
zumute ist. Aber eins muss ich dir
noch sagen, bevor ich gehe, nur damit du es weißt. Du sollst wissen, dass es
für mich wie ein Stich ins Herz ist, dich mit deiner Assistentin hier
zurückzulassen. Es ist, als würde mir die Haut von den Brüsten gerissen. Das
halte ich nicht aus, Walter.» Sie sah ihn beschwörend an. «Ich bin so verletzt
und eifersüchtig, ich weiß nicht, was ich tun soll.»
    «Du kommst
darüber weg.»
    «Vielleicht.
Irgendwann mal. Ein bisschen. Aber verstehst du, was es heißt, dass ich jetzt
so empfinde? Verstehst du, was es darüber aussagt, wen ich liebe? Verstehst
du, was hier wirklich Sache ist?»
    Der
Anblick ihres wilden, flehenden Augenausdrucks verstärkte seinen Schmerz und
Ekel in dem Moment derart - gipfelte in einem solchen kumulativen Abscheu vor
dem Leid, das sie in ihrer Ehe einander zugefügt hatten -, dass er
unwillentlich doch losbrüllte: «Wer hat mich denn dazu getrieben?
Für wen war ich nie ganz gut genug? Wer brauchte immer noch mehr Zeit zum
Nachdenken? Glaubst du nicht, dass sechsundzwanzig
Jahre genügen, um darüber nachzudenken? Wie viel Zeit brauchst
du denn noch, verdammt? Glaubst du, irgendwas von deinem Geschreibsel hat mich
überrascht? Glaubst du, ich habe nicht von jedem beschissenen bisschen davon in
jeder beschissenen Minute unseres Wegs gewusst? Und dich trotzdem geliebt, weil
ich nicht anders konnte? Und mein ganzes Leben vergeudet?»
    «Das ist
unfair, ach, das ist so unfair.»
    «Scheiß
auf Fairness! Und Scheiß auf dich!»
    Mit einem
Fußtritt verwandelte er das Manuskript in ein weißes Gestöber, war aber so
diszipliniert, beim Hinausgehen nicht die Tür hinter sich zuzuschlagen. Unten
toastete sich Jessica in der Küche einen Bagel, am Tisch stand ihre
Reisetasche. «Wo stecken denn heute Morgen alle?»
    «Mom und
ich haben uns ein wenig gestritten.»
    «Klang mir
ganz so», sagte Jessica mit dem ironischen Augen-aufreißen, das ihre übliche
Reaktion darauf war, einer Familie anzugehören, die weniger im Lot war als
sie. «Alles gut jetzt?»
    «Wir
werden sehen, wir werden sehen.»

«Ich hatte
gehofft, den Mittagszug zu kriegen, aber wenn du willst, kann ich auch einen
späteren nehmen.»
    Da er sich
Jessica immer nahe gefühlt hatte und glaubte, auf ihre Unterstützung zählen zu
können, kam es ihm nicht in den Sinn, dass er einen taktischen Fehler beging,
wenn er sie jetzt abwimmelte und ihres Weges schickte. Er erkannte nicht, wie
wesentlich es war, sie als Erste zu informieren und die Geschichte angemessen
darzustellen: machte sich nicht klar, wie schnell Patty mit ihrem
Siegerinstinkt Schritte unternehmen würde, die Allianz mit ihrer Tochter zu
festigen und ihr ihre Version der Geschichte einzutrichtern («Dad lässt Mom
unter fadenscheinigem Vorwand sitzen, fängt etwas mit junger Assistentin an»).
Dachte überhaupt nicht über den Augenblick hinaus, und ihm schwirrte der Kopf
von ebenden Gefühlen, die mit Vatersein rein gar nichts zu tun hatten. Er nahm
Jessica in den Arm und dankte ihr überschwänglich dafür, dass sie gekommen war,
um bei der Gründung von FreiRaum zu helfen, dann ging er in sein Büro und
starrte aus dem Fenster. Der Ausnahmezustand war so weit verblasst, dass ihm
wieder einfiel, was noch alles an Arbeit vor ihm lag, aber noch nicht verblasst
genug, als dass er sie auch hätte tun können. Er beobachtete eine Katzendrossel,
die in einer vor der Blüte stehenden Azalee herumhüpfte; er beneidete den Vogel
darum, dass er nichts von dem wusste, was er wusste; auf der Stelle hätte er
mit ihm die Seele getauscht. Und dann davonfliegen, den Auftrieb der Luft auch
nur für eine Stunde erleben: Der Tausch war ein Selbstgänger, und die
Katzendrossel mit ihrer lebhaften Gleichgültigkeit ihm gegenüber, ihrer Gewissheit
körperlicher Identität, schien sich sehr wohl bewusst, wie viel besser es war,
der Vogel zu sein.
    Eine
unirdische Zeitspanne später, er hatte inzwischen einen großen Koffer rollen
und die Haustür mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fallen hören, tippte
Lalitha an seine Bürotür und steckte den Kopf herein. «Alles in Ordnung?»
    «Ja»,
sagte er. «Komm, setz dich auf meinen Schoß.»
    Sie hob
die Augenbrauen. «Jetzt?»
    «Ja,
jetzt. Wann sonst? Meine Frau ist doch weg, oder?»
    «Ja, sie
ist mit einem Koffer gegangen.»
    «Tja, sie
kommt nicht wieder. Also los. Warum nicht. Sonst ist niemand im Haus.»
    Und sie
tat es. Lalitha war keine, die

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