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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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es ihr so vor, als wäre sie praktisch schon verheiratet.
    Auf dem
Motelparkplatz, Dorothy war
bereits ins Haus gegangen, um sich hinzulegen, sah Patty Walter etwas Merkwürdiges
tun. Er rannte von einem Ende des Parkplatzes zum anderen, machte im Laufen
Sprünge und federte auf den Zehen ab, bevor er wendete und zurückrannte. Es war
ein glanzvoll klarer Morgen, mit einer steten, starken Brise aus dem Norden,
die die Kiefern am Bach wispern ließ - wie es der Name des Motels besagte. Am
Ende eines seiner Sprints hüpfte Walter auf und ab, kehrte dann Patty den
Rücken zu und lief die Route 73 entlang, immer weiter und in die Kurve, bis er
außer Sichtweite war, und blieb eine Stunde fort.
    Am
Nachmittag desselben Tages, im Zimmer 21, bei helllichtem Tag und offenen
Fenstern, vor denen sich die ausgeblichenen Vorhänge bauschten, lachten und
weinten und vögelten sie mit einer Freude, an deren Ernst und Unschuld
zurückzudenken der Autobiographin beinahe das Herz bricht, und weinten noch
mehr und vögelten noch mehr und lagen dann mit schwitzenden Körpern und übervollen
Herzen beieinander und lauschten dem Seufzen der Kiefern.
    Patty
fühlte sich, als hätte sie irgendeine starke Droge genommen, deren Wirkung
nicht nachließ, oder als wäre sie in einen unglaublich plastischen Traum
versunken, aus dem sie nicht wieder erwachte, und dabei war ihr vollkommen
bewusst, Sekunde für Sekunde für Sekunde, dass es keine Droge und kein Traum
war, sondern das Leben, das ihr da widerfuhr, ein Leben, in dem es nur die
Gegenwart und keine Vergangenheit gab, eine Liebesgeschichte, anders als alle
Liebesgeschichten, die sie sich jemals vorgestellt hatte. Denn mal im Ernst,
Zimmer 21! Wie hätte sie sich denn Zimmer 21 vorstellen sollen! Es war so ein
liebenswert sauberes, altmodisches Zimmer und Walter so ein liebenswert
sauberer, altmodischer Mensch. Und sie war 21 und konnte ihre 21-Jährigkeit in
dem frischen, sauberen, starken Wind spüren, der aus Kanada herunterwehte. Ihr
kleiner Vorgeschmack auf die Ewigkeit.
    Mehr als
vierhundert Personen kamen zur Beerdigung seines Vaters. Obwohl Patty ihn gar
nicht gekannt hatte, war sie seinetwegen stolz auf die enorme Anteilnahme.
(Wenn man sich ein großes Begräbnis wünscht, ist es von Vorteil, früh zu
sterben.) Gene war ein gastfreundlicher Mann gewesen, der gern angelte und
jagte und Zeit mit seinen Kumpeln verbrachte, die meisten davon Veteranen, und
der das Pech gehabt hatte, Alkoholiker zu sein, keine gute Ausbildung genossen
zu haben und eine Frau an seiner Seite zu wissen, die nicht nur ihre Hoffnungen
und Träume, sondern auch den größten Teil ihrer Liebe in ihren mittleren Sohn
investierte anstatt in ihn. Walter würde es Gene nie verzeihen, dass er Dorothy so hart im Motel hatte arbeiten lassen, aber die Autobiographin muss ehrlicherweise sagen, dass Dorothy ihrer
Meinung nach zwar ausgesprochen lieb, aber auch eindeutig ein Märtyrertyp war.
Der Empfang nach der Beerdigung, in einem evangelischen Gemeindesaal, war Pattys Crashkurs in Bezug auf Walters Großfamilie, ein Fest des Gugelhupfs
und der Entschlossenheit, alles von der heiteren Seite zu betrachten. Die fünf
noch lebenden Geschwister von Dorothy waren da,
ebenso Walters älterer Bruder, frisch aus dem Gefängnis entlassen, mit seiner
nuttenhaft hübschen (ersten) Frau und ihren zwei kleinen Kindern, ebenso sein
schweigsamer jüngerer Bruder in seiner Army- Ausgehuniform.
Ohne Frage war die einzige wichtige Person, die fehlte, Richard.
    Walter
hatte ihn natürlich angerufen, um ihn zu benachrichtigen, aber schon das war
nicht einfach gewesen, weil er dafür erst Richards notorisch schwer
erreichbaren Bassisten Herrera in Minneapolis hatte
aufspüren müssen. Richard war gerade nach Hoboken, New Jersey, gezogen. Nachdem
er Walter telefonisch sein Beileid bekundet hatte, sagte er, er sei finanziell
abgebrannt und könne leider nicht zur Beerdigung kommen. Walter versicherte
ihm, das sei völlig in Ordnung, trug ihm dann aber jahrelang nach, dass er sich
nicht doch aufgerafft hatte, was nicht ganz fair erscheint, wenn man bedenkt,
dass Walter insgeheim schon damals wütend auf Richard war und ihn gar nicht bei
der Beerdigung hätte dabeihaben wollen. Aber Patty hütete sich, diejenige zu
sein, die ihm das auseinandersetzte.
    Ein Jahr
später, als sie sich kurz in New York aufhielten, schlug sie Walter vor, er
könne doch Richard besuchen und einen Nachmittag mit ihm verbringen, aber
Walter erklärte, er habe ihn

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