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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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in den vergangenen Monaten zweimal angerufen,
wohingegen Richard sich kein einziges Mal bei ihm gemeldet
habe. Patty sagte: «Aber er ist doch dein bester Freund», und Walter sagte:
«Nein, ich habe ja jetzt dich», und Patty
sagte: «Na gut, dann ist er eben dein bester männlicher Freund, und ich finde,
du solltest ihn besuchen.» Aber Walter blieb hartnäckig und sagte, so sei es
immer gewesen - immer habe er sich mehr wie der Hofierer als der Hofierte
gefühlt, ja es gebe eine Art Hochrisikopolitik zwischen ihnen, einen
Wettstreit, bei dem es darum gehe, bloß nicht der Erste zu sein, der klein
beigebe und sich bedürftig zeige -, und er habe die Nase voll davon. Es sei
nicht das erste Mal, dass Richard einfach abtauche. Wenn er noch mit ihm
befreundet sein wolle, dann könne ja wohl dieses eine Mal er derjenige sein,
der sich die Mühe mache, zum Hörer zu greifen. Obwohl Patty vermutete, dass
Richard immer noch ein mulmiges Gefühl wegen der Chicago-Geschichte hatte und
Walters häusliches Glück nicht stören wollte, weshalb es womöglich an Walter
war, ihm zu versichern, dass er weiterhin willkommen sei, hütete sie sich
erneut zu insistieren.
    Wo Eliza
zwischen Walter und Richard etwas Schwules ausgemacht hatte, sieht die
Autobiographin heute eher etwas Geschwisterliches. Als Walter aus dem Alter
heraus war, da sein älterer Bruder auf ihm gekniet und ihm eins übergezogen
und er auf seinem jüngeren Bruder gekniet und dem eins
übergezogen hatte, gab es in seiner eigenen Familie keinen ernstzunehmenden
Konkurrenten mehr für ihn. Er hatte noch einen weiteren Bruder gebraucht, den
er lieben und hassen, mit dem er sich messen konnte. Und die Frage, die Walter
ewig quälte, so jedenfalls sieht es die Autobiographin, war die, ob Richard
der kleine oder der große Bruder war, der Versager oder der Held, der geliebte,
angeschlagene Freund oder der gefährliche Rivale.
    Walter
behauptete, mit Richard sei es genau wie mit Patty Liebe auf den ersten Blick
gewesen. Passiert war es an seinem ersten Abend am Macalester, nachdem sein
Vater ihn abgesetzt hatte und schnell nach Hibbing zurückgefahren war, wo aus
der Lounge der Canadian Club-Whisky
nach ihm rief. Noch im Sommer hatte Walter Richard einen netten Brief
geschrieben, an eine Adresse, die ihm von der Zimmer- und Wohnungsvermittlung
genannt worden war, aber Richard hatte nicht geantwortet. Auf einem der Betten
in ihrem gemeinsamen Zimmer fand Walter nun einen Gitarrenkasten, einen
Pappkarton und einen Seesack vor. Den Eigentümer dieses Minimalgepäcks bekam er
erst nach dem Abendessen zu Gesicht, bei einer Zusammenkunft der Bewohner ihres
Flurs. Es war ein Moment, den er Patty später viele Male beschrieben hat: wie
dort in einer Ecke, weitab von allen anderen, ein Typ stand, von dem er den
Blick nicht abwenden konnte, ein sehr großer, pickeliger Mensch mit wilder
Mähne und einem Iggy-Pop-T-Shirt, der den anderen Studienanfängern in nichts
ähnelte und während des launigen Einführungssermons ihres Betreuers weder
lachte noch auch nur höflich lächelte. Walter hatte viel Mitgefühl mit Leuten,
die lustig zu sein versuchten, und lachte allein schon deshalb, um sie für ihre
Anstrengungen zu belohnen, und doch wusste er sofort, dass er mit diesem großen
ernsten Menschen befreundet sein wollte. Er hoffte, dass er sein Mitbewohner
war, und so war es.
    Und
Richard, erstaunlich genug, mochte ihn. Es fing schon damit an, dass Walter
zufällig aus der Stadt kam, in der Bob Dylan aufgewachsen
war. Nach der Zusammenkunft, in ihrem Zimmer, bombardierte Richard ihn mit
Fragen über Hibbing, wollte wissen, wie es dort so sei und ob Walter
irgendwelche Zimmermanns persönlich gekannt habe. Walter erklärte ihm, das
Motel liege etliche Kilometer außerhalb der Stadt, aber auch das Motel
beeindruckte Richard, ebenso wie die Tatsache, dass Walter ein Vollstipendium
hatte, obwohl sein Vater Alkoholiker war. Richard sagte, er habe Walter nicht
zurückgeschrieben, weil sein eigener Vater fünf Wochen zuvor an Lungenkrebs
gestorben sei. Und er fügte hinzu, dass er sich Hibbing, da Bob
Dylan ein Arschloch sei, jene bewundernswerte Reinform von
Arschloch, die in einem jungen Musiker den Wunsch entstehen lasse, selbst ein
Arschloch zu sein, immer als einen von Arschlöchern wimmelnden Ort vorgestellt
habe. Der flaumwangige Walter, der dort in ihrem gemeinsamen Zimmer saß, seinem
Mitbewohner eifrig zuhörte und sich nach Kräften bemühte, ihn zu beeindrucken,
war eine

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