Franzen, Jonathan
sein Gebiet,
und er bewachte es streng. In Bezug auf die Authentizität von Richards Achtung
vor guten Menschen hält die Autobiographin sich daher für die verlässlichere
Quelle als Walter.
Zweifellos
imponierend an Richard war sein Bemühen, an sich zu arbeiten und den Mangel
auszugleichen, der durch das Fehlen elterlicher Fürsorge entstanden war. Er
hatte die Kindheit überlebt, indem er Musik gemacht und nach seinen etwas
eigenwilligen Kriterien ausgewählte Bücher gelesen hatte, und was ihn an
Walter unter anderem faszinierte, waren dessen Intellekt und Arbeitsmoral. Auf
manchen Gebieten war Richard ausgesprochen belesen (französischer
Existenzialismus, lateinamerikanische Literatur), aber er hatte keine Methode,
kein System, und war voll aufrichtiger Bewunderung für Walters Fähigkeit, sich
auf bestimmte Themen zu konzentrieren. Obwohl er Walter genügend Respekt
zollte, um ihn von der erwähnten übertriebenen Höflichkeit gegenüber Menschen,
die er für gut hielt, zu verschonen, lag ihm doch
viel daran, an Walters Gedanken teilzuhaben und sich dessen unkonventionelle
politische Überzeugungen von ihm erklären zu lassen.
Die
Autobiographin mutmaßt, dass für Richard außerdem ein verquerer Konkurrenzvorteil darin bestand, sich mit einem biederen Typen aus dem Norden des Landes
anzufreunden. Es war eine Möglichkeit, sich von den Hipstern am Macalester
College abzusetzen, die aus privilegierteren Familien stammten als er. Richard
verachtete diese Hipster (die weiblichen eingeschlossen, was jedoch nicht
ausschloss, sie zu vögeln, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab) genauso so
sehr, wie die Hipster Leute wie Walter verachteten. Der Dokumentarfilm über Bob
Dylan, Don't Look Back, war sowohl
für Richard als auch für Walter ein Prüfstein gewesen, weswegen Patty ihn eines
Abends, als die Kinder noch klein waren, auslieh und sich mit Walter zusammen
anschaute, um die berühmte Szene zu sehen, in der Dylan auf einer von hippen Leuten wimmelnden Party in London den Sänger Donovan in den Schatten stellt und demütigt, und zwar einzig und allein um des
Vergnügens willen, ein Arschloch zu sein. Während Walter Mitleid mit Donovan hatte - und dazu noch an sich selbst zweifelte, weil er keineswegs
eher wie Dylan, sondern
eher wie Donovan sein
wollte -, fand Patty die Szene erregend. Diese atemberaubende Nacktheit von Dylans Drang, der Bessere von beiden zu sein! Ihr Gefühl war: Machen wir uns
nichts vor, Erfolg ist süß. Die Szene half ihr zu verstehen, warum Richard es
vorgezogen hatte, seine Zeit mit dem Nicht-Musiker Walter anstatt mit den
Hipstern zu verbringen.
In
intellektueller Hinsicht war Walter eindeutig der große Bruder und Richard sein
Schüler. Und doch war für Richard das Klugsein genau wie das Gutsein nur ein
Nebenschauplatz ihrer eigentlichen Rivalität. Das war es, was Walter gemeint
hatte, als er sagte, er vertraue seinem Freund nicht. Nie wurde er das Gefühl
los, dass Richard ihm etwas verbarg; dass es eine dunkle Seite von ihm gab,
die ihn aus Gründen, zu denen er sich nicht bekannte, Abend für Abend losziehen
ließ; dass er Walter gern zum Freund hatte, solange außer Zweifel stand, wer
der Platzhirsch war. Als besonders unzuverlässig erwies sich Richard immer
dann, wenn ein Mädchen auf der Bildfläche erschien, und Walter grollte diesen
Mädchen, weil sie für Richard vorübergehend interessanter waren als er.
Richard selbst sah das nie so, weil er viel zu schnell genug von den Mädchen
hatte und Schluss mit ihnen machte; zu Walter dagegen, von dem er nie genug
hatte, kam er immer wieder zurück. Aber Walter fand es illoyal von seinem
Freund, so viel Energie aufzuwenden, um Menschen hinterherzulaufen, die er nicht
mal mochte. Er fühlte sich schwach und klein, weil er immer und ohne Ausnahme
für Richard verfügbar war. Ihn quälte der Gedanke, dass Richard ihm womöglich
mehr bedeutete als er Richard und dass er wesentlich mehr dafür tat, ihre
Freundschaft am Leben zu erhalten.
Zur ersten
großen Krise kam es während ihres letzten Jahrs am College - zwei Jahre bevor
Patty die beiden kennenlernte -, als Walter sich in Nomi verguckt hatte, die
Schreckschraube aus dem zweiten Studienjahr. Wenn man Richard die Situation schildern
hörte (wie es Patty einmal vergönnt war), gab es keinen Zweifel: Sein sexuell
unbedarfter Freund wurde von einer nichtswürdigen Frau ausgebeutet, der gar
nichts an ihm lag, und Richard nahm es schließlich auf sich, ihre
Nichtswürdigkeit unter
Weitere Kostenlose Bücher