Franziskus, der neue Papst (German Edition)
mit einer Kompetenz ausstatten wollen, die sie fit für alle intellektuellen Herausforderungen macht. Bergoglio studiert deshalb Geisteswissenschaften, Philosophie und Theologie, zunächst in Chile, dann wieder in seiner Heimatstadt Buenos Aires. Kommilitonen beschreiben ihn als ernsthaften jungen Mann, der bereits damals durch seine Fokussierung auf das Wesentliche aufgefallen sei.
Ein Jahr später, am 13. Dezember 1969, wird Bergoglio zum Priester geweiht. Der Jung-Priester geht nach Spanien und sammelt Auslandserfahrung. Wieder zurück, übernimmt er das Amt des Novizenmeisters der Jesuiten und lehrt Theologie – Jorge Mario Bergoglio ist in der Leitungsebene angekommen. Im selben Jahr noch steigt der damals 37-Jährige erneut auf und wird Provinzial der argentinischen Jesuiten, also deren Leiter. Die Jesuiten sind ein streng organisierter Orden, ein Erbe der militärischen Vergangenheit ihres Gründers, Ignatius von Loyola. An der Spitze steht ihr General in Rom. Das Gehorsamsprinzip ist stark ausgeprägt, früher wurden die Jesuiten dafür von ihren Gegnern geschmäht, man warf ihnen »Kadavergehorsam« vor. Die »Soldaten Christi« waren aber in erster Linie ein Exzellenzcluster der Kirche, wichtige Akteure der Gegenreformation, Begründer des Jesuitentheaters und damit Anführer der ersten großen Medien- und Marketingoffensive der katholischen Kirche. Dazu galten sie als die Missionare, die der Papst dann schickte, wenn es besonders heikel war. Möglich war das alles nicht zuletzt durch die strikte Organisation des Ordens. Zugleich lebten und leben die Jesuiten relativ unabhängig, haben kein gemeinsames Chorgebet, tragen kein Ordensgewand und legen auch nicht das Gelöbnis der Ortstreue ab, der »Stabilitas Loci«. Die einzelnen Provinzen können verhältnismäßig selbstständig agieren – für viele heute ein Grund für die Hoffnung, dass ein Jesuiten-Papst den Ortskirchen freiere Hand lässt und größeren Spielraum zugesteht. Es gibt ein Zitat dazu, das weit blicken lässt. Es zeigt, wie Franziskus ’ pneumatische Lehre mit sozial-strukturellen Überlegungen verknüpft: »In der Kirche bewirkt der Heilige Geist die Harmonie. Einer der ersten Kirchenväter schrieb, dass der Heilige Geist ›ipse harmonia est‹: er selbst ist Harmonie. Er allein ist zugleich Urheber der Einheit und der Vielfalt. Der Geist allein bewirkt Verschiedenheit, Vielfalt und gleichzeitig Einheit. Denn wenn wir es sind, die Verschiedenheit machen, kommt es zu Schismen, und wenn wir es sind, die die Einheit wollen, kommt es zur Uniformität und Gleichschaltung. […] Man nimmt diese nicht passive, sondern kreative Harmonie wahr, die zur Kreativität drängt, weil sie vom Geist kommt.« Auf die Ortskirchen übertragen, würde das mehr Freiheit für sie bedeuten. Mehr Freiheit impliziert aber auch immer mehr Verantwortung. Verantwortung, die besonders für die Entscheidungsträger gilt, in den Ortskirchen wie im Orden. Bergoglios Verantwortung als Oberer für seine Mitbrüder wiegt schwer, es sind stürmische Zeiten. Wie stürmisch und wie schwer, das muss der neue Provinzial Jorge Mario Bergoglio bald erfahren.
Seit fast 30 Jahren stehen die Frauen an der Plaza de Mayo, dem zentralen Platz in Buenos Aires. Sie blicken auf den Präsidentenpalast Casa Rosada und Cabildo de Buenos Aires, auf das Rathaus und die Nationalbank. Die Frauen sind nicht aufgrund der mächtigen prächtigen Gebäude hier. Sie sind hier, um anzuklagen. Anzuklagen die Regierung, die in den offiziellen Gebäuden sitzt. Anzuklagen die, die in dem Gebäude rechts in der Ecke stehen, sitzen oder knien. Dort befindet sich die Kathedrale von Buenos Aires und die Frauen werfen der Kirche vor, verantwortlich für ihr Schicksal zu sein. Ihre Kinder verloren zu haben während den brutalen Tagen der Militärdiktatur unter Isabell Peron und Jorge Videla. Es ist eine der grausamsten Militärdiktaturen der lateinamerikanischen Geschichte, die ohnehin reich an grausamen Diktaturen ist, von den spanischen Eroberern bis zu den Regimen der Neuzeit. Genau die Zeit, als Jorge Mario Bergoglio Provinzial der Jesuiten ist – und die für manche einen schwarzen Fleck auf der weißen Soutane darstellt.
Die Vorwürfe, um die es geht, sind alt. Doch direkt nach seiner Wahl werden sie erneut vorgebracht, die Welt beginnt sich zu fragen, wen sie da als neuen »Heiligen Vater« erhalten hat. Doch nicht etwa einen Kollaborateur? Oder gar noch schlimmer, einen Verräter? Einen Judas,
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