Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
zerlumpten Hosen und ausgewaschenen T-Shirts sitzen sah, wäre niemals auf die Idee gekommen, in einem Kloster zu sein. Ich weiß noch, dass wir über Joseph Ratzinger sprachen, den Chef der Glaubenskongregation und seine ablehnende Haltung gegenüber der Theologie der Befreiung. »Kommunismus kann doch nicht die Lösung sein«, sagte ich damals. Die Losung einer Fraktion der Theologie der Befreiung lautete: »Ubi Lenin, ibi Jerusalem« (»Wo Lenin, dort Jerusalem«). Es war eine Aufforderung, dass Kirche und Kommunismus Seite an Seite marschieren sollten. »Das funktioniert nicht«, sagte ich. Pater Marcello schüttelte den Kopf. Er trug ein zerfetztes T-Shirt mit Werbung für den Autohersteller Ford und eine ramponierte Jogginghose. Einen solchen Ordensmann hatte ich noch nie zuvor gesehen. Er hatte ein intelligentes Gesicht, dichte schwarze Haare, einen imposanten Schnurrbart und sah damit aus wie ein gerissener kubanischer Schurke aus einem billigen amerikanischen Film. »Auch wir wollen keinen Kommunismus, aber ihr aus Rom, aus Europa, ihr versteht Lateinamerika überhaupt nicht und auch nicht die Theologie der Befreiung. Ihr versteht gar nichts.«
»Und was verstehen wir nicht?«, fragte ich, mittlerweile leicht genervt.
»Jetzt pass mal auf«, sagte er. »Die Vereinten Nationen sagen seit Jahren, dass es keine andere Gegend auf der Welt gibt, in der Einkommen so ungerecht verteilt sind wie in Lateinamerika. Das gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Merk dir einfach ein paar ganz simple Zahlen. Die Hälfte des kompletten Einkommens in Lateinamerika gehört zehn Prozent der Einwohner. Diese zehn Prozent sind so reich, dass sie nicht wissen, wohin mit dem Geld. Dann kommen 80 Prozent Mittelschicht, die immerhin über 48 Prozent des Einkommens verfügen, und danach die zehn Prozent Lateinamerikaner, die insgesamt nicht einmal zwei Prozent des Gesamteinkommens Lateinamerikas haben. Verstehst du, was das heißt? Das heißt, dass eine vierköpfige Familie, die zu verhungern droht, es vielleicht schafft – alle zusammen, Vater, Mutter und zwei Kinder –, vier Dollar am Tag zu erbetteln. Mami kann dann für Frühstück, Mittag- und Abendessen, Schulbücher, Kleidung, Reparatur der Hütte einen Dollar pro Familienmitglied ausgeben. Selbst wenn die Familie nur altes Brot isst und rohes Gemüse und sich in Lumpen hüllt, reicht das Geld nicht aus, um dem Hunger zu entkommen. Die reiche vierköpfige Familie verfügt am selben Tag nicht über das Doppelte oder das Dreifache, nicht über das Zehnfache, nein, über das 25-Fache dessen, was die arme Familie hat. Die reiche Mami kann mindestens 100 Dollar pro Tag ausgeben, mit denen es sich komfortabel leben lässt. Das heißt im Klartext, dass auf einem Kontinent, der alles hat, Millionen Menschen verhungern müssen.«
Ich wusste, dass er recht hatte.
»Rate mal: Wie viele Menschen in Lateinamerika hungern, sodass sie vom Hungertod oder tödlichen Krankheiten aufgrund von Unterernährung bedroht sind.«
»Ein, zwei Millionen«, antwortete ich.
»Es sind über 70 Millionen. Die UNO nennt sie ›extrem arm‹, was bedeutet, dass sie über weniger als einen Dollar am Tag verfügen. Gleichzeitig leben die reichsten Menschen der Welt in Lateinamerika. Findet du das gerecht?«
»Nein«, sagte ich.
»Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Das muss man einfach verhindern. Hast du schon einmal ein Kind gesehen, das verhungert ist, eine Frau, die ihren ausgemergelten Körper anbietet, um zu verhindern, dass ihre Kinder den Hungertod sterben? Hast du nicht gesehen, habe ich recht? Das hast du sicher nicht, denn das gibt es in Rom nicht. Wenn du zwei und zwei zusammenzählst, kannst du dir ausrechnen, warum ausgerechnet hier in diesem Teil der Welt die Theologie der Befreiung entstand. Es geht um Gerechtigkeit. Hat der Mann aus Nazareth nicht gesagt, dass die, die nach Gerechtigkeit dürsten, selig sind?«
Ich nickte.
»Es geht nicht um Lenin. Es geht um Thomas von Aquin, einen Theologen aus dem Mittelalter, der in Mittelitalien lebte. Wenn ihr Europäer vom Befreiungskampf in Lateinamerika hört, dann denkt ihr an Moskau, an Marx, an Engels. Aber hier hat der Befreiungskampf mit Christus zu tun und vor allem mit Thomas von Aquin. Der hatte eine prima Idee. Er dachte sich: Wenn eine Gesellschaft, in der sehr viele Sünden begangen werden, eine Veränderung erreichen könnte, sodass viel weniger Sünden begangen werden, dann ist ein Krieg von Gott erlaubt und
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