Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
wusste es nicht. Später kam Schwester Dolores zu mir, die mich auf die Erstkommunion vorbereitet hatte. Sie sagte: ›Du erlebst etwas wie Christus.‹ Da verstand ich die Bedeutung des Schmerzes.« Wenn die Weisheit stimmt, dass Not beten lehrt, mag das für den jungen Chemiker zugetroffen haben. Die Operation gelingt, und Bergoglio ändert sein Leben. Seiner Mutter wird er erklären, dass er Medizin studieren will. Beim Aufräumen seines Zimmers findet sie lauter theologische Bücher und stellt Jorge zur Rede. Er erklärt ihr, dass er tatsächlich Arzt werden wolle, aber Arzt für die Seelen.
An den Tag, an dem er die Entscheidung traf, Priester zu werden, erinnert sich Bergoglio genau. Es war der 21. September 1957: Er hatte sich mit Freunden treffen wollen, er hatte mit dem Gedanken gespielt, an diesem Tag seine Freundin zu bitten, seine Verlobte zu werden. Doch statt zu seinen Freunden zu fahren, hält er an der Pfarrkirche in seinem Stadtteil Flores an und empfindet das Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, er weiß nicht, warum. In der Kirche zieht ihn aus »unerklärlichen Gründen« ein Priester an, den er in der Kirche dort noch nie gesehen hatte. Er bittet ihn, ihm die Beichte abzunehmen. Dieser Priester teilt das Schicksal Bergoglios, auch er kennt die Erfahrung schwerer Krankheit, er leidet an Leukämie. Ein Jahr später wird er sterben, aber dieses Zusammentreffen wird Jorge Mario Bergoglio endgültig davon überzeugen, Priester zu werden. Er glaubt von da an, dass Gott immer schneller ist als er selbst: Sein Wahlspruch wird: Wenn du Gott suchst, ist es Gott, der dich als Erster findet. Am 11. März 1958 tritt er ein in das Priesterseminar Villa Devoto der Gesellschaft Jesu, er will Jesuit werden. Jetzt folgen die strengen Jahre des Studiums der Theologie und der Philosophie in Argentinien und Chile.
Mit seinem Eintritt in das Priesterseminar der Gesellschaft Jesu hat Bergoglio eine Vorentscheidung für sein Leben getroffen. Er weiß jetzt sicher, dass er innerhalb der Kirche niemals Karriere machen kann. Aus seiner Sicht stellt sich seine Zukunft so dar, dass ihm der Weg zum Bischof, Kardinal oder gar Papst verstellt ist. Dass ausgerechnet dieser Mann, der ganz bewusst die Entscheidung trifft, nicht in der Hierarchie aufsteigen zu wollen, es bis ganz nach oben schafft und der 265. Nachfolger des heiligen Petrus wird, erscheint unglaublich.
Die Jesuiten sehen sich bekanntlich seit ihrer Gründung als die Männer, die vom Papst besondere Aufgaben übertragen bekommen. Jesuiten gehen in die Mission oder in die Medien – so werden etwa Radio Vatikan und das Vatikanfernsehen CTV seit Jahrzehnten von Jesuiten geleitet. Es gab nur sehr, sehr wenige Bischöfe und noch nie einen Papst aus diesem Orden.
Wegen ihres langen Studiums haben die Jesuiten den Ruf, die intellektuelle Speerspitze der Kirche zu sein. Sie gelten als schlau, aber auch verschlagen. Exemplarisch demonstriert das der berühmteste Jesuitenwitz, der Zigarrenwitz:
Ein einfacher Franziskanerpater sieht, wie ein Jesuit eine dicke, teure Zigarre raucht und dabei im Brevier liest und betet.
»Hören Sie mal«, sagt der Franziskaner, »man darf doch beim Beten nicht rauchen.«
Der Jesuit sieht ihn freundlich an und sagt: »Lieber Pater, Sie haben völlig recht, es ist sicher nicht gut, beim Beten zu rauchen, und das würde ich auch niemals tun. Aber sehen Sie, es ist absolut nichts dagegen einzuwenden, beim Rauchen auch zu beten.«
Doch Jorge Mario Bergoglio ist nicht der in diesem Witz illustrierte Typ des verschlagenen Jesuiten. Vielmehr sollte der Jesuit Bergoglio später als Papst Franziskus im Angesicht der ganzen Welt einen für das Papstamt völlig neuen Stil an den Tag legen. Er verbindet die Fürsorge der Franziskanermönche für die Armen mit der Gelehrsamkeit der Jesuiten. Das hielt man bisher für unvereinbar.
Doch zunächst studiert Bergoglio in Chile Geisteswissenschaften, kehrt nach Buenos Aires zurück und erlangt dort am Colegio Maximo San José seinen Hochschulabschluss in Philosophie. Bergoglio ist auf dem amerikanischen Kontinent geboren, was ihn fasziniert, sind die Ideen, die bei der Herausbildung der Länder dieses Kontinents Pate standen und die auf der Freiheit des Einzelnen beruhen. Anders als in Europa entstanden die Staaten des amerikanischen Kontinents vor allem durch die Befreiung von ihren einstigen Kolonialherren. Freiheit ist in Amerika, im Norden wie im Süden, ein zentraler Begriff. Bergoglio ist fasziniert
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