Franziskus - Zeichen der Hoffnung: Das Erbe Benedikts XVI. und die Schicksalswahl des neuen Papstes (German Edition)
der katholischen Kirche. In den Freikirchen ist alles erlaubt – vom Gesundbeten bis zur Teufelsaustreibung. Viele von ihnen gehen vor allem in armen Ländern sehr aggressiv vor, bezahlen sogar besonders bedürftige Menschen, damit sie Mitglieder der freikirchlichen Gemeinden werden.
Aus Sicht der katholischen Kirche sind die Freikirchen nichts anderes als Sekten, sie können sich nach römischer Doktrin nicht auf Jesus Christus berufen, wie das die katholische Kirche für sich in Anspruch nimmt. Viele Freikirchen, so etwa die Pfingstbewegungen, bieten in Lateinamerika auch Service ganz praktischer Art in Form von Arbeitsbeschaffungsprogrammen an. Ganz gezielt werden wohlhabendere Mitglieder der Gemeinde angesprochen, um den ärmeren und arbeitslosen einen Job zu verschaffen. In weiten Teilen Lateinamerikas klappt das sehr gut. Insgesamt sind die Priester der Freikirchen weit dienstleistungsbezogener als die der katholischen Kirche. Sie sehen die Gläubigen vor allem als Kunden, deren praktische Bedürfnisse ernst genommen werden müssen. Diese pragmatische »Kundenorientierung« ist der Motor des Erfolgs der Freikirchen in weiten Teilen der Welt. Und Lateinamerika wird in den kommenden Jahren der wichtigste Schauplatz dieser Schlacht sein. Es wird darum gehen, dort das Überleben der katholischen Kirche zu sichern. Bergoglio sprach darüber, dass das Problem aus Brasilien in alle anderen Länder des Kontinents überzuschwappen drohte.
Sohn des peronistischen Argentiniens
Mir fiel an Bergoglio auf, dass dieser Mann so jugendlich wirkte in seinem Verhalten, obwohl er damals, 2007, schon 71 Jahre alt war. Dennoch blitzte in diesem Gespräch immer noch dieser Junge aus dem Stadtteil Flores in Buenos Aires durch. Er hatte eine glückliche Kindheit gehabt. In Europa hätte es kein gutes Vorzeichen bedeutet, am 17. Dezember 1936 geboren worden zu sein. Als Dreijähriger hätte er die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erfahren, wäre er wie sein Vorgänger Karol Wojtyła in Polen geboren worden.
Doch Bergoglio wächst in dem wegen seiner vielen Blumen »Flores« benannten Viertel der Hauptstadt Argentiniens auf. Der Stadtteil ist in den Jahren 1939 bis 1945 ein Paradies, während Europa in Flammen steht. Es fallen keine Bomben, man kann in Ruhe Fußball spielen. Bis heute ist Bergoglio ein Fan des nicht sonderlich bedeutenden Fußballklubs San Lorenzo. In Buenos Aires geht man nicht zu den Spielen von San Lorenzo, sondern zu denen von River Plate oder den Boca Juniors, bei denen einst auch Diego Armando Maradona kickte. Das Verhältnis von River Plate und San Lorenzo entspricht in etwa dem von HSV und Sankt Pauli oder dem von Bayern München und 1860 München. Jorge Mario Bergoglios Jugend ist unbeschwert. Sein Vater Mario Bergoglio war 1928 vor dem Faschismus in Italien geflohen, um in Buenos Aires ein bescheidenes Leben als Buchhalter bei der Eisenbahn zu führen, zusammen mit seiner Frau Regina Maria, geborene Sivorio. Neben Jorge Mario haben sie noch vier weitere Kinder. In Aparecida lässt Bergoglio im Gespräch keinen Zweifel daran, dass er mit Leib und Seele Porteño ist, wie man in Argentinien die Bewohner von Buenos Aires nennt.
Noch etwas beeindruckte mich an ihm. Jorge Mario Bergoglio war ein Mann, ein richtiger Mann. Selbst wenn er seine Priestergewänder anlegte, bewegte er sich wie ein Mann, er sprach wie ein Mann, er schimpfte wie ein Mann. Im Vatikan gibt es eine Unmenge von Kardinälen und Bischöfen, die ihr Geschlecht mit der Entscheidung, Priester zu werden, abzulegen scheinen. Manche mögen homosexuelle Tendenzen haben, andere werden zu etwas Geschlechtslosem, einer Art Wesen, das mit einem Mann nichts mehr zu tun hat. Joseph Ratzinger hatte dieses Problem gehabt. Nach dem Krieger Karol Wojtyła, der ein ganzer Kerl gewesen war, schienen die Zeremonienchefs ein leichtes, wesenloses Engelchen geschaffen zu haben. Ratzingers Zeremonienmeister Guido Marini beriet ihn zweifellos schlecht. Diese ständigen Spitzenumhänge machten den Papst, manchmal ohne dass er es wollte, aber auch ohne dass er es merkte, fast ein wenig lächerlich. Das schlimmste Bild in dieser Hinsicht, an das ich mich erinnere, war die Weihe eines Altares in Washington. In einer Art Spitzenrock rieb Ratzinger den Altar mit geweihtem Öl ein und wirkte dabei wie die nette alte Omi, die den Tisch putzt. Es war peinlich, und selbst den glühendsten Anhängern Ratzingers ging das zu weit.
Bergoglio schien da völlig anders zu sein, er
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