Französische Nächte: Erotischer Roman (German Edition)
besetzt, der den Blick nicht von Oruelas Beinen abwenden konnte, als sie hineinging. Sie spürte, dass er sie ansah, und ihre Stimmung hob sich. Wenn sie ihn beeindrucken konnte, obwohl draußen vor seinem Fenster auf der Straße den ganzen Tag so viele modisch gekleidete Frauen herumliefen, dann stand es wohl doch nicht so schlecht um sie bestellt, wie sie gedacht hatte.
Euska führte sie zum Abendessen ins La Coupole in Montparnasse aus, und sie unterhielten sich über die Menschen, die sie sahen. Ihre Mutter wusste viel über das Leben in Paris, und sie saugte alles in sich auf.
Am nächsten Morgen schritt sie sofort zur Tat. Nach dem Frühstück sah sie sich den Stadtplan an und wurde ganz aufgeregt, als sie merkte, dass sie ganz in der Nähe all der Dinge wohnte, die sie sehen und tun wollte. Sie zog ihre Hose und eine Seidenweste an und flog nahezu aus dem Haus, und der nette junge Portier blickte ihr erstaunt nach.
Anstatt auf den Boulevard St. Germain mit seinen zahlreichen Modegeschäften zu eilen, ging sie in Richtung Süden die schöne Rue Mabillon entlang und wandte sich an der St. Sulpice in Richtung des Place de L’Odéon und ihres Mekkas. Fast jeder Straßenname, den sie las, rief ihr historische Fakten ins Gedächtnis. Der traurige Tod des englischen Poeten Oscar Wilde, der Bücherladen »Shakespeare & Company« an der Rue de L’Odéon, von dem aus James Joyces Ulysses auf die Welt losgelassen worden war. Auf einmal befand sie sich auf dem Boulevard St. Michel, dem Boule Miche, wie er bei den Studenten von der Sorbonne genannt wurde.
Die Cafés wurden gerade erst geöffnet. Müde Kellner mit langen Schürzen wischten in der Morgensonne die Tische ab. Dann kam ihr auf der Straße ein Mann entgegen, der ganz in Lila und Gelb gekleidet war, einen riesigen Schnurrbart hatte und einen Hummer an der Leine mit sich führte. Oruela stand vor Staunen der Mund offen, doch sie schloss ihn schnell wieder und versuchte, weltmännisch auszusehen. Schließlich war sie jetzt in Paris.
Sie überquerte die Straße und betrat fast schon auf Zehenspitzen den Place Sorbonne. Einige Studenten hasteten über die Straßen auf das große Gebäude zu, und sie folgte ihnen. Das Foyer der Universität war voller Menschen, die sich unterhielten oder sich etwas zuriefen. An den Wänden hingen riesige Tafeln, die über das Thema und den Veranstaltungsort der morgendlichen Vorlesungen informierten. Sie ging an der Wand entlang, hielt sich fern von der lauten Menge und ihren Körpern. Zwei junge Männer lächelten sie an, und sie lächelte schüchtern zurück. Dann sah sie zu den Tafeln hinauf.
L’histoire de la révolution. Socialisme et change en Europe. La nouvelle française 1812–1889. La nouvelle anglaise. Les philosophies anciennes. La philosophie – Henri Bergson. Wenn ihr Verstand hätte reden können, dann hätte er jetzt vor Freude geschrien.
Auf einmal wurde eine Glocke geläutet und setzte die Massen in Bewegung. Nach einer Minute stand sie alleine in der großen Halle. Sie kam sich töricht vor. Wie sollte sie jemals Teil dieser großen Institution werden? Es war niemand zu sehen, der ihr erklären konnte, wie man sich hier einschrieb. Sie stand da an der Wand und starrte mit leerem Blick ihre dumme kleine Schultertasche an, die gegen ihre Beine schlug.
»Haben Sie sich verlaufen?«, fragte ein Mann.
Sie sah auf. Vor ihr stand ein älterer Herr. Er trug einen schwarzen Anzug mit Krawatte und trug einige Bücher sowie einige Blätter in der Hand.
»Zu welcher Vorlesung möchten Sie denn? Vielleicht kann ich Ihnen den Weg zeigen?«, fragte er freundlich.
»Nein, danke«, antwortete Oruela, entschuldigte sich und ging auf die Glastür zu.
»Warten Sie«, sagte er und nahm sanft ihren Arm. »Laufen Sie nicht weg. Sie sollten keine Angst haben. Das hier ist ein friedlicher Ort. Sind Sie Studentin?«
»Nein«, erwiderte sie und schämte sich.
»Aber Sie würden gerne hier studieren, nicht wahr?«
Daraufhin musste sie doch lächeln. »Ja, aber …«
»Das Wissen liegt direkt vor Ihnen, meine Liebe. Kommen Sie mit. Welche Themen interessieren Sie?«
»Philosophie«, antwortete sie.
»Welche Philosophie im Besonderen?«, hakte er nach. »Wir haben eine Menge zur Auswahl. Das ist wie im Laden, sehen Sie.« Er deutete mit einer allumfassenden Armbewegung auf die Vorlesungen an der Tafel.
»Ich würde sehr gerne Henri Bergson hören«, sagte sie, noch immer eingeschüchtert. »Davon habe ich geträumt, als
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