Franzosenliebchen
Versailles zu Reparationen verpflichtet. Aber
diese Vereinbarung war ja nur unter Druck unterzeichnet worden. Wie
viele Deutsche empfand Goldstein Versailles als schreiende
Ungerechtigkeit. Ein Schandfrieden!
Goldstein bestellte
sich noch einen Milchkaffee. Was wohl Kriminaldirektor Sander von
ihm wollte? Seine Gedanken wandten sich seinen unmittelbaren
Problemen zu. Hatte doch jemand von seiner
Zweitbeschäftigung Wind bekommen, die er an fast jedem
Samstagabend und auch manchmal freitags ausübte? Konnte das
der Grund für die Vorladung sein? Würde sich ein
Kriminaldirektor tatsächlich um so eine Kleinigkeit
kümmern? Obwohl - Sander hatte in der Berliner Kriminalpolizei
einen Ruf als besonders harter Hund.
Die Bedienung
servierte ihm mit einem Lächeln den Kaffee. Er nahm einen
Schluck und versuchte, sich wieder auf die Zeitungslektüre zu
konzentrieren. Aber immer wieder kreisten seine Gedanken um den
Termin im Adelsclub.
Adelsclub! Was
für ein treffender Spitzname für das
Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Goldstein musste trotz
seiner Befürchtungen lächeln, als er darüber
nachdachte. Es stimmte schon - viele seiner Vorgesetzten und
Kollegen waren Offiziere oder verarmte Adelige. Fast alle hatten
Abitur, die meisten von ihnen wie er einige Semester Jura oder aber
auch Medizin studiert, etwa jeder sechste Kriminalkommissar trug
einen Doktortitel. Es war wirklich eine vornehme Gesellschaft, die
sich in dem wuchtigen roten Backsteinbau am Alex eingefunden
hatte.
Goldstein seufzte.
Übermorgen würde er wissen, was Sander mit ihm zu
besprechen hatte. Für elf Uhr war er vorgeladen.
7
Montag, 5. Februar
1923
Der Tank hielt kurz
an, dann drehten sich die rasselnden Ketten in unterschiedliche
Richtungen. Langsam schwenkte das stählerne Ungetüm nach
links und riss dabei den Schotterbelag der Baarestraße auf.
Die Erde zitterte. Als das drohend gesenkte Rohr nach Norden
zeigte, setzte sich der Koloss wieder in Bewegung. Ihm folgten zwei
Kraftwagen, auf deren Ladeflächen bewaffnete Soldaten
hockten.
Einzelne Anwohner, vom
Lärm der Kettenfahrzeuge geweckt, lugten hinter ihren
Vorhängen hervor und beobachteten erschrocken den
martialischen Auftritt der französischen Besatzungsarmee, die
sich jetzt im Schritttempo auf die Zeche Teutoburgia zu
bewegte.
Kurz vor dem breiten
Tor der Schachtanlage stoppte der Konvoi. Der Panzer fuhr einige
Meter in die Einfahrt, dann drehte sich der Turm, sodass der
Kommandant gute Sicht auf die hier mündenden Straßen
hatte. Befehle wurden gerufen, die hinteren Ladeklappen der
Lastkraftwagen gekippt. Die Soldaten sprangen von den Fahrzeugen
und stellten sich hintereinander in zwei Reihen von je
fünfzehn Mann auf. Einige Offiziere traten hinzu und teilten
ihre Untergebenen in Gruppen ein. Zehn Franzosen nahmen vor dem
Eingangstor Aufstellung, die restlichen folgten ihren Vorgesetzten
trotz heftigen verbalen Widerstands des Pförtners auf das
Werksgelände.
Durch den Lärm
der ankommenden Fahrzeuge alarmiert, war mittlerweile einer der
Betriebsführer der Zeche im Eingangsbereich erschienen und
stellte sich, protestierend und beide Arme ausbreitend, den
Franzosen in den Weg. Aufhalten konnte der Mann mit dieser
hilflosen Geste jedoch niemanden. Auf eine knappe Anordnung des
Offiziers hin richtete einer der Soldaten seinen Karabiner auf den
Betriebsführer und machte dem Deutschen durch Gesten
unmissverständlich klar, dass er ihm zu folgen habe. Gemeinsam
mit dem Pförtner wurde der Mann zu den Wagen geführt.
Dort mussten beide auf die Ladefläche eines Kraftwagens
steigen und unter Bewachung auf den Holzbänken Platz
nehmen.
Zwischenzeitlich hatte
ein anderer Trupp Soldaten damit begonnen, Dutzende Exemplare eines
französischen Flugblattes an den Gebäuden der Zeche
anzubringen.
Die Leute von
Berlin, war da in großen Lettern zu lesen, vergießen
Krokodilstränen über das Martyrium an der Ruhr. Sie
weigern sich jedoch das zu tun, was die Franzosen im Jahre 1871
getan haben, nämlich die Schulden zu bezahlen. Überlegt
euch das, Deutsche!
*
Als sich gegen halb
sechs, eine gute, Stunde nach dem Eintreffen der Soldaten, die
ersten Kumpel der Frühschicht ihrem Arbeitsplatz
näherten, kontrollierten Franzosen schon alle wichtigen
Bereiche der Zeche Teutoburgia: die Maschinenhallen, die beiden
Schächte, das Kasino, die Kauen, die Verwaltung und das
Eingangstor.
Die Bergarbeiter, die
das Zechengelände betreten wollten, mussten ein Spalier
Soldaten passieren, die
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