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Franzosenliebchen

Franzosenliebchen

Titel: Franzosenliebchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Zweyer
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aufrecht Hauptmann Schreiber
mit dem Rücken zum Feind, die Trillerpfeife im Mund, und
forderte seine Soldaten mit energischen Handbewegungen auf, die
Gräben zu verlassen und anzugreifen. Der Offizier stand da,
die feindlichen Geschosse ignorierend, anscheinend ohne jede Angst
um sein eigenes Leben.
    Wie ein Fels in der
Brandung, dachte Goldstein, als er an ihm vorbeilief.
    Der Angriff in ihrem
Abschnitt endete bereits nach wenigen Metern. Noch bevor es den
Infanteristen gelungen war, mit den Drahtscheren eine Lücke in
den Stacheldraht zu schneiden, waren die meisten von ihnen tot.
Zerfetzt von Granaten, zersiebt von Maschinengewehren. Einige
hingen leblos im Drahtverhau, andere brüllten vor Schmerz. Ihr
Schreien ging unter im Donnern der Explosionen.
    Goldstein warf sich zu
Boden, kroch, nach Deckung suchend, langsam zurück. Ein
ohrenbetäubender Knall in seiner unmittelbaren Nähe
ließ ihn fast taub werden. Wie von einer Riesenhand wurde er
hochgehoben, fünf Meter zur Seite geschleudert und landete am
Rand eines Granattrichters. Er machte sich so klein, wie er konnte,
tastete nach seinen Beinen und stellte mit Erleichterung fest, dass
er den Einschlag anscheinend unverletzt überstanden hatte.
Sein Gewehr hatte er verloren, ebenso seinen Stahlhelm. Hier, im
Freien liegend, war er leichte Beute für Kugeln und Splitter.
Er musste in Deckung gehen! Er glitt über den Rand in den
Trichter und atmete durch. Eine vorläufige Sicherheit. Er
versuchte, sich zu orientieren. Der Unterstand befand sich etwa
zwanzig Meter südlich, eine fast unüberwindbare
Entfernung.
    Der Trichterrand war
glitschig. Immer wenn Goldstein sich bewegte, rutschte er auf dem
nassen Lehm ein Stück tiefer. Plötzlich hörte er
neben sich ein Stöhnen. Er drehte sich vorsichtig um. Etwa
einen Meter unterhalb von ihm lag ein deutscher Infanterist, dessen
rechter Armstumpf heftig blutete.
    »Kamerad«,
stöhnte der Soldat. »Bitte hilf mir.«
    Goldstein bemühte
sich, dem Mann näher zu kommen. Dabei verlor er erneut ein
wenig an Höhe. Plötzlich bemerkte er, dass auf dem Boden
des Trichters eine Art gelber Nebel wogte. Er wusste sofort, was
dieser Nebel bedeutete: Gas! Es hatte sich auf dem Grund gesammelt.
Hastig griff Goldstein an seine Seite, an der der
Blechbehälter mit der Gasmaske an seinem Gürtel hing.
Aber da war kein Blechbehälter. Und auch keine Gasmaske.
Wieder rutschte er tiefer. Panik erfasste ihn. Seine Finger
krallten sich in den nassen Lehm. Aber unaufhaltsam glitt er weiter
nach unten, dem sicheren Tod entgegen. Er strampelte, ruderte mit
den Armen, hieb
seine Füße in den Lehm, bis er einen Widerstand
spürte. Er drückte sich ab. Das Stöhnen seines
Kameraden wurde lauter. »Bitte nicht«, jammerte der
Schwerverwundete. »Bitte.«
    Goldstein ignorierte
das Flehen, schob sich hoch, den Körper seines Kameraden als
Widerlager nutzend, drückte ihn hinein ins Gas und sich in
Sicherheit, kroch schließlich über den Rand des
Trichters und hörte trotz des infernalischen Lärms von
kreischenden Splittern und explodierenden Granaten das letzte Wort
des im Gas krepierenden Soldaten. Das letzte Wort des
Infanteristen, der ihm durch seine bloße körperliche
Anwesenheit das Leben gerettet und den er dem Gas
überantwortet hatte. Das Wort, das er nie mehr im Leben
würde vergessen können: Mutter.
    *
    Peter Goldstein
saß allein in dem Abteil in der zweiten Klasse. Zum dritten
Mal an diesem Tag zog er den Personalausweis aus der Tasche, den
ihm Kriminalsekretär Hofer ausgehändigt hatte. Der
Ausweis berechtigte zur Einreise in die besetzten Gebiete. Das
Foto, das Goldstein hatte machen lassen, war auf der rechten Seite
des Dokuments quer eingeklebt und an der unteren linken Ecke mit
einem Stempel versehen worden, auf dem man mit Mühe die
Aufschrift Der Stadtkommandant entziffern konnte. Goldstein selbst
hatte mit seinem richtigen Namen gezeichnet, da Hofer zu bedenken
gegeben hatte, dass die Verwendung eines Falschnamens immer die
Gefahr eines irrtümlichen Versprechers mit sich bringe und so
die Tarnung auffliegen könne. Auch das Geburtsdatum war
korrekt angegeben, lediglich Goldsteins Geburtsort war von
Straßburg nach Hannover verlegt worden. Als ständiger
Wohnsitz war seine alte Berliner Adresse genannt. Unter Beruf stand
Handelsvertreter. Diese Ausweise waren im Grunde nicht mehr als von
den Franzosen ausgestellte Passierscheine. Doch ohne ein solches
Dokument würde er das besetzte Gebiet nicht

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