Fratzenmond: Katinka Palfys dritter Fall (German Edition)
geistiges Erbe.«
Katinka stellte ihr Glas weg und schloss den Reißverschluss ihrer Jacke. »Für Geistiges bin ich nicht die richtige Adresse«, sagte sie. »Wenden Sie sich an den Pfarrer.«
»Quatsch.« Alina Faber hielt Katinka am Ärmel fest. »Sie verwechseln geistig und geistlich. Warten Sie. Ich will wissen, wie der momentane Stand in der Familie ist. Wer liebt wen, wer hasst wen, wie stehen Vater und Kinder zueinander. Mein Sohn Philipp hatte ein Mädchen dabei. Er wird am Samstag heiraten. Wissen Sie, dass ich nicht einmal zur Hochzeit eingeladen bin?« Sie fuhr mit dem Finger über die Etiketten einiger Flaschen. Seufzend fuhr sie fort: »Ich kenne seine Braut überhaupt nicht. Was Grit treibt? Davon habe ich genauso wenig Ahnung. Da war so ein Knäblein heute auf dem Friedhof. Sie hat mal einen gewissen Norbert Einwag erwähnt. Ihr Freund, scheint’s. Aber so ein Knaller Grits Freund? Sie steht doch gar nicht auf … korpulente Männer. Keiner spricht mit mir. Solche Sachen möchte ich wissen. Ich will, dass Sie für mich die Hochzeit im Auge behalten und mir berichten.«
»So was mache ich nicht«, sagte Katinka bestimmt.
»Ich will doch nichts Anrüchiges von Ihnen!«, rief Alina Faber. »Ich muss Grit vor ihrem eigenen Vater bewahren, verstehen Sie? Sie sollte Jura studieren, aber Ida meinte, das wäre nicht das Wahre für Grit, und sie hätte auch gar keine Lust dazu. Ohne Ida, wie stehe ich denn da? Sie war das Scharnier zwischen mir und den Hassebergs. Ich werde nicht einmal mehr erfahren, was im Leben meiner Kinder los ist. Ich meine, Philipp ist ein Abziehbild seines Vaters geworden, aber Grit ist vielleicht noch zu retten.«
Sie warf die Kostümjacke über einen Stapel Weinkartons und zog ein Portemonnaie aus ihrer Handtasche.
»500 Euro Anzahlung.«
Katinka wusste, sie hätte gehen, Alina Faber einfach stehen lassen sollen. Doch dann siegte wie stets die Neugier. Und etwas, das sie niemandem gegenüber jemals ansprechen würde. Nicht einmal vor Tom. Da spukte eine Stimme durch ihren Kopf, Idas Stimme. Nehmen Sie den Auftrag an . Ich glaube, ich werde verrückt, dachte Katinka. Dieser Geisterreiter, die verworrene Alina Faber, der Outlaw-Gedanke.
»Eine Woche«, sagte Katinka und nahm das Geld. »Ich schicke Ihnen eine Quittung. Der Rest gegen Rechnung.«
Alina Hasseberg lächelte, und wieder strahlte ihr Gesicht sonnig und froh. Sie überreichte Katinka ihre Visitenkarte.
»Hier. Mein Handy ist immer an. Viel Erfolg.«
Katinka verließ den Laden. Der Schürzenmann kam mit dem leeren Sackkarren zurück. Sie sah sich um. Alina Faber zückte eine Kreditkarte.
Wein für mehrere tausend Euro im Jahr, dachte Katin-ka. Entweder, sie trinkt den selbst aus, oder sie ist doch nicht so einsam, wie sie mich glauben machen wollte.
Ich habe selten eine Diskussion über Verlust geführt.
Einbußen, Verluste, Defizite, Lücken … alles getrübte Ausdrücke für das Empfinden, das mich beschwert. Könnte man sagen, ein Empfinden, das mich erfüllt? Ich habe nicht den Eindruck – es wirkt nicht nur paradox, es ist paradox, wenn man sich vom Gefühl des Verlustes erfüllt sieht. Aber Menschen sind paradoxe Wesen. Statt- dessen bevorzuge ich den Begriff ›einhüllen‹. Gefühle hüllen mich stets ein. Sie sind individuelle Formen von Suggestionen. Man soll sich nicht einbilden, dass man Einbildungen wegrationalisieren könnte. Dazu fällt mir noch ein, dass alle Menschen dem Charme von Einbildungen erliegen: Sie sitzen vor schwarzen Kästen und konsumieren farbige Einbildungen. Soviel dazu.
6. In Idas Allerheiligstem
Der Regen fegte in spitzen, eiskalten Stacheln vom Himmel. Katinka lehnte sich mit aller Kraft dagegen. In pitschnassen Jeans erreichte sie die Hasengasse. Sie fror. Während sie den Schlüssel aus dem Versteck zog, flüsterte ihr der Wasserkocher verführerische Geschichten von heißem Tee zu, aber sie wollte so schnell wie möglich in Idas Villa, bevor die Verwandten sich vom Mittagstisch erhoben und auf die gleiche Idee kamen. Mit Todesverachtung trat sie wieder hinaus in den Regen und stieg aufs Rad. Nun war auch der Sattel nass, und ihr Hintern ebenso. Die letzten Meter in der Hainstraße schob sie ihr Fahrrad. Das Gartentor war nur angelehnt. Katinka zog die Kapuze vom Kopf und drückte auf die Klingel. Niemand antwortete.
»Hallo? Ist jemand zu Hause?«
Sie ging langsam um das Haus herum. Die Erinnerung an jenen Abend vor einer knappen Woche machte sie ganz
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