Fratzenmond: Katinka Palfys dritter Fall (German Edition)
sie über die Mauer gestoßen hatte. Sie kam ihr zerbrechlich vor wie ein Osterei. Katinka starrte auf die frischen Blumen. Orangefarbene Rosen. Eine seltene Farbe, dachte Katinka. Diesen Ton habe ich noch nie gesehen.
»Ich bin schuld«, flüsterte Grit, die Stimme vom Weinen und vom Entsetzen entstellt. »Ich bin schuld. Ich bin schuld.«
»Woran denn«, fragte Katinka ratlos. Grit ließ sie los.
»Sie war genauso alt wie ich«, sagte sie. »Ich hab’s rausgekriegt. Mama hat die Zeitung mit der Todesanzeige aufgehoben. Ich hätte auch tot sein können. Oder lieber ich als sie.« Sie zeigte auf das nasse Grab und auf die leuchtenden Rosen. Katinka hatte den Eindruck, der Regen und das graue Licht wüschen die Farbe aus den Blüten. Grit stellte sich vor das Grab und schloss die Augen. Ihre Arme baumelten herab, ihr Gesicht sah schneeweiß aus. Die Lippen schimmerten blau. Katinka konnte sehen, dass ihre Zähne klapperten, aber es schien ihr nichts auszumachen. Sie achtete einfach nicht darauf.
»Grit, Sie müssen ins Trockene«, sagte Katinka.
»Das Schlimme ist«, sagte Grit, als sie sich umdrehte und Katinka in die Augen sah. »Ich erinnere mich. Und ich vergesse das nicht. Das hätte er sich denken müssen. Aber zu spät. Zu spät für ihn.«
Katinka starrte Grit verständnislos an.
»Wer ›er‹?«
»Was Ihnen passiert ist, und Ida, und Sybille … alles, alles ist meine Schuld.«
»Grit«, sagte Katinka. »Haben Sie Ida umgebracht?«
»Nein.«
»Gut. Haben Sie mich über die Ringmauer gestürzt?«
»Nein.« presste Grit heraus. Katinka wusste nicht, ob sie es glauben sollte. Sie nahm es als Hypothese für den Moment.
»Also sind Sie nicht schuld.«
»Was wissen denn Sie!« Gehetzt sah Grit sich um. »Ich will Idas Haus nicht. Ich will gar nichts mehr haben. Ich will nur, dass endlich diese Lügen aufhören. Er ist zu allem fähig. Ich weiß es doch. Ich weiß es. Er ist … Er hat …« Sie brach ab. Niemand war in dem Wetter unterwegs. Irgendwo, sehr viel weiter, fand eine Beerdigung statt. Katinka hörte das ferne Krächzen der Lautsprecher. Trister kann’s ja nicht mehr werden, dachte sie. Sie überlegte, ob es einen Unterschied machte, ob man seine Lieben bei Windböen und Dauerregen begrub oder bei strahlendem Sonnenschein unter blauem Himmel.
»Von wem sprechen Sie?«, fragte Katinka.
Grit schwieg. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie muss völlig durchnässt sein, dachte Katinka.
»Sagen Sie es mir, Grit. Von wem sprechen Sie?«
»Glauben Sie an Gott? An ewige Verzeihung? Oder an ewige Verdammnis?«
»Also«, begann Katinka. »Ich beschäftige mich vornehmlich mit dem Diesseits.« Sie begann, selber zu frieren. Irgendwann kommt die Grippe schon noch, dachte sie.
»Hier!« Grit wies auf einen Grabstein schräg gegenüber. » Benedictus qui venit . Latein. Heißt: Gesegnet sei, der da kommt. Oder?«
»Soweit ich mich erinnere«, sagte Katinka und probierte es mit einem Lächeln. Die Formenquälerei aus Schulzeiten war lange her.
»Doch, doch. So heißt es.« Grit wischte sich die patschnassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Komischer Spruch. Wer kommt?«, fragte sie sich selbst.
»Es ist eine Zeile aus der katholischen Messe, aus dem Sanctus«, half Katinka aus. » Gebenedeit sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe .«
»Aber wer kommt?«, insistierte Grit und drehte sich wie ein Kreisel. Voller Argwohn zuckten ihre Blicke über die Grabsteine.
»Christus, nehme ich an.« Katinka nahm ihren Arm. »Oder rechnen Sie mit einem anderen?«
»Ja. Mit dem Teufel.«
»Wo sollte der denn herkommen?« Katinka verstärkte ihren Griff. Ruhig bleiben, mahnte sie sich selbst.
»Der Teufel? Er ist 55 Jahre alt und einen Meter fünfundachtzig groß.«
Katinka starrte Grit an. Sie schien den Verstand verloren zu haben.
»Grit«, sagte Katinka. »Was quält sie so!«
Ein scharfes Geräusch direkt neben ihnen ließ sie beide zusammenfahren. Ein plötzlicher Windstoß hatte einen Ast abgeknickt. Er verfing sich in der Baumkrone, die sich wütend im Wind schüttelte, und polterte dann mit einem trockenen KNACK zu Boden.
Grit drehte sich um und rannte davon. Die riesige Tasche hopste in einem wilden Rock ’n’ Roll um ihren mageren Körper. Katinka hetzte ihr nach, aber behindert von ihrem schmerzenden Fuß kam sie nur langsam voran. Sie biss die Zähne zusammen, bis ihr der Kiefer mehr wehtat als der Knöchel. Grit taumelte und fiel hin. Sie blieb mitten auf dem Weg
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