Fratzenmond: Katinka Palfys dritter Fall (German Edition)
legte unwillkürlich die Hand auf ihren Bauch.
»Grit trifft keine Schuld. Aber sie ist gestern so … so entsetzt gewesen. Sie macht sich weiterhin Vorwürfe. Auch, dass es Ida so schlecht ging danach. Grit ist ein anständiger Kerl. Sie übernimmt die Verantwortung selbst da, wo die Verantwortung verweht ist. Wenn man mit einer schweren Gehirnerschütterung im eigenen Auto liegt, bewusstlos, kann einen doch keine Schuld treffen.«
»Es war das Blitzeis.«
»Ja!«, rief Alina Faber. »Was kann man da machen. Ich sagte ihr auch: Der einzige Grund, sich schuldig zu fühlen, wäre der, überhaupt gefahren zu sein. Ich wette, ihr Vater hat ihr diese plötzlichen Schuldgefühle eingetrichtert. Naja. Die beiden, also Grit und Ida, waren bei Philipp in Coburg. Es ging um mich. Ach, verdammt. Schlimm genug.« Sie goss Katinka Saft nach. »Grit und Ida versuchten, Philipp umzustimmen. Er wollte mich aber partout auf der Hochzeit nicht dabeihaben. Ich bin die Schande der Sippe, so sieht es doch aus. Grit wollte sich damit einfach nicht abfinden, also sprang sie kurz entschlossen ins Auto und verschaffte sich zusätzliche Schützenhilfe durch Ida. Seine Großtante konnte selbst Philipp nicht so einfach abwimmeln. Wenn ich dran denke …« Sie legte die Hände vors Gesicht und murmelte: »Wegen mir musste das arme Mädchen sterben.« Sie ließ die Hände sinken und schüttelte den Kopf. »Wegen mir. Einer Quartalssäuferin. Außerdem war das Opfer völlig sinnlos: Ich wurde dennoch nicht auf die Hochzeit eingeladen.«
»Wo waren Sie denn am Samstag?«, fragte Katinka, obwohl es ihr eigentlich egal war.
»Ich war übers Wochenende bei einer Freundin in München. Ich hätte es nicht ausgehalten, hier zu sitzen und da oben auf dem Berg die Feier stattfinden zu wissen. Ich glaube, ich hätte mich aufgemacht und eine Rauchpatrone geworfen.« Sie stöhnte.
»Grit und Ida waren beide sehr schwer verletzt, oder?«
»Ja. Das Schlimme war die Gehirnerschütterung. Beide hatten die Erinnerung an den ganzen Tag verloren. Grit dachte sogar zuerst, wir hätten noch den 27. Januar. Der Unfall war aber am Abend des 28. Ihr fehlte ein ganzer Tag.«
»Und Ida?«
»Ähnlich. Sie erholte sich langsamer. Ein alter Mensch kommt eben nicht mehr so schnell auf die Beine. Selbst Ida, mit ihrer Konstitution wie eine Bärin … Aber Grit hatte auch noch eine schlimme Unterkühlung. Sie war so elend. Ich saß Tag und Nacht in dem Zimmer im Klinikum.«
Katinka meinte sich zu erinnern, dass Sieglinde Unruh genau das Gegenteil behauptet hatte. Ida sei zäher gewesen als Grit.
»Lagen die beiden im selben Zimmer?«
»Ja. Bot sich ja an. Quasi wie ein Familienkaffeeklatsch.« Alina Faber lachte trocken. »Natürlich habe ich mir damals auch Sorgen um Idas Geisteszustand gemacht. Aber heute denke ich … ich weiß nicht, was ich denke.«
»Dass Ida doch keine Halluzinationen hatte, meinen Sie das?«, fragte Katinka.
»Das habe ich ohnehin nie geglaubt. Aber sie wirkte auf mich anders als vorher. Mag ja nichts zu bedeuten haben. Außer, dass so ein Unfall eben eine Kerbe ins Leben schlägt, die sich nicht wieder ausbügeln lässt.«
Katinka schloss kurz die Augen und fühlte wieder die Schwerelosigkeit, als sie über die Brüstung stürzte. Sie griff schnell nach dem Glas Apfelsaft. Eine Kerbe. Eine neue Kerbe in ihrem eigenen Leben. Grit hasst ihren Vater , hörte sie Kathrin sagen. Neulich, als sie noch Brettschneider hieß. »Das müsste für Grit doch genauso gelten«, sagte sie.
»Schon.« Alina Faber sah in die Ferne. Qui tollis peccata mundi .
»Ist Grit anders geworden?«, fragte Katinka.
»Ja. Und nein. Sie versucht, sich entschiedener von ihrem Vater zu lösen. Wissen Sie, wie Sie mir vorhin alles berichteten, was Sie beobachtet haben, da dachte ich, der zentrale Konflikt in unserer Familie ist der zwischen Grit und ihrem Vater. Diese vermaledeite Abhängigkeit.« Sie schob die Prospekte auf dem Tisch hin und her. Ihre Finger zitterten. »Wäre Grit losgelöst von ihm, dann wären Roland und ich vielleicht noch ein Paar. Er ist, alles in allem, nicht der s chlechteste.«
Ich werd’ verrückt, dachte Katinka. Laut sagte sie:
»Das sagen viele Frauen, wenn sie bereuen, weggegangen zu sein.«
»Oh, ich bereue es nicht, nein«, sagte Alina entschieden. Sie rieb sich die Augen. »Ich musste weg, ich wäre sonst zugrunde gegangen. Nur meine Beweggründe stehen mir heute klarer vor Augen. Ich ging, weil ich es nicht sehen konnte, wie er
Weitere Kostenlose Bücher