Frau an Bord (Das Kleeblatt)
tobsüchtigen Alten von einer Sekunde auf die andere in ein frommes Lamm zu verwandeln? Was für ein Pech aber auch, dass sie nicht das Geringste verstehen konnte. Zwar funktionierten ihre Ohren selbst für einen Funker überdurchschnittlich gut, auf diese Entfernung jedoch versagten sie ihr den Dienst.
Lediglich zum besseren Verständnis sei an dieser Stelle eingefügt, dass man Susanne nicht unbedingt als neugierig hätte bezeichnen können. Allerdings fand sie, sie sei zu jung zum Sterben, und allein schon aus diesem Grund hätte sie gern erfahren, welche Waffen Harry Pohl gewählt hatte, um den Alten zu besiegen. Doch dann hörte sie den Kapitän in einem unsicheren, geradezu sanften Tonfall reden und sie merkte verwundert auf.
„ Das ist keine gute Idee, gar nicht gut. … Nein, niemals wird er das tun, Harry, vergiss es ganz schnell wieder. Ich kenne ihn lange genug und besser als ihr alle. Er ist mein Freund.“ Sein Lachen klang hektisch. Verzweifelt. „Ja. Ja, ist schon gut. Versuche es von mir aus, wenn du dich gerne zum Affen machst. Gib mir Bescheid, wie ihr euch entschieden habt.“
Ihr Herz machte einen wilden Satz und automatisch hob Susanne ihre Hand an die Brust, während ihr gleichzeitig heiß und kalt wurde. Sie hatte keine Ahnung, was der Auslöser dafür gewesen sein mochte, aber sie hätte schwören können, dass sich bei seinen Worten eine Spur jenes seltsamen Singsangs in seine Stimme geschlichen hatte, der sie an Adrian erinnerte. Der melodiöse Klang seiner Worte war wie warmer Whiskey aus seiner Kehle geströmt und hatte vergrabene Erinnerungen freigelegt.
Sie schüttelte verwirrt den Kopf und rief sich zur Besinnung. Sie sollte endlich aufhören zu träumen. Noch einmal atmete sie kontrolliert durch, wie sie es seit einem Jahr Tag für Tag trainierte, um sich zu beruhigen.
Resigniert ließ d er Alte den Kopf sinken. Eine düstere Verschlossenheit ging von ihm aus. Eine gewisse Traurigkeit. Er hielt seinen Blick auf einen Punkt irgendwo in der Unendlichkeit geheftet und schien ebenfalls mit seinen Gedanken genau dort zu sein, wohin ihm niemand folgen durfte. Er seufzte leise.
„Gibt es noch irgendwelche Änderungen bei der Route oder bleibt mir wenigstens das erspart? … Aber dann könnten wir ja ohne Funk…“
Sus anne hatte sich, leichtsinnig wie sie war, bereits in Sicherheit gewiegt, als der Kapitän mit seiner gewaltigen Stimme erneut so laut brüllte, dass sie erschrak. „Verdammt, du weißt, was das … Beeile dich gefälligst damit! … Du kannst mich mal …“
Es war vollkommen überflüssig , den Satz zu beenden. Harry Pohl hatte gesprochen. Und nicht einmal er, der vom Erfolg verwöhnte Matthias Clausing, konnte einem nackten Mann in die Tasche greifen, um das ihm genehme Personal daraus hervorzuziehen. Voller Zorn knallte er den Hörer auf den Telefonapparat.
Susanne , die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, um sich in der eisigen Atmosphäre nicht die Finger abzufrieren, beobachtete, wie der Kapitän die Augen schloss, als könnte er damit sie und das Problem, dass er mit ihr hatte, kurzerhand aus der Welt schaffen. Mit fahrigen Fingern fuhr er sich über die Stirn, auf der sich tiefe Furchen eingegraben hatten. Den Kopf schwer in beide Hände gestützt, stierte er in ihre Richtung, ohne sie wahrzunehmen.
E r konnte es drehen und wenden, wie er wollte, die Abfuhr durch den Flottenbereichsleiter war eindeutig. Wie es aussah, musste er sich dieses eine Mal geschlagen geben und sich den Entscheidungen anderer beugen.
Mit gemischten Gefühlen musterte Sus anne ihrerseits den Kapitän des Schiffes, mit dem sie die nächste Reise fahren sollte. Hatte sie es wirklich nötig, sich so etwas anzutun? Diese an Frechheit grenzende Blasiertheit, dieses Macho-Gehabe und seine offen zur Schau getragene Antipathie! Und das waren vermutlich noch seine positiven Charaktereigenschaften! Konnte man es ihr verübeln, wenn sie ihm unter Umständen sogar alle möglichen Gewalttätigkeiten zutraute?
Und dazu zählte ebenfalls die Tatsache, dass sie s eit geschlagenen fünf Minuten vor ihm stand und dieser Knurrhahn sie noch immer mit unverhohlenem Widerwillen anglotzte. Seine Gesichtszüge wirkten wie festgefroren. Susanne musste sich zwingen, nicht zu auffällig in seinem Mund nach Reißzähnen zu suchen. Dieser Mann besaß die erstaunliche Fähigkeit, Menschen das Gefühl zu vermitteln, sie wären völlig unwichtig, unsichtbar, einfach nur Luft!
Ha, von wegen Luft! Die
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