Frau des Windes - Roman
aus dem Knast zu holen.«
Leonora weiß nie, wo er gerade steckt, und fragt sich, ob das Klappern seiner Schreibmaschine wohl genauso klingt wie das des Fürsten von Monaco in der Anstalt, und wozu überhaupt diese ganze Hetzerei. Alles, was Renato damals hinter sich gelassen hat, rollt jetzt in einem Wirbelsturm aus Festen über ihn hinweg. Um drei Uhr nachmittags trifft er sich mit Politikern, und das Essen zieht sich bis in den Abend. Renato ist der Mittelpunkt des Trubels.
»Das geht vorbei, Leonora, jetzt feiern alle meine Rückkehr, aber ewig wird das nicht so weitergehen«, entschuldigt sich Leduc. »Und dich mögen sie alle, also sei nicht blöd, begleite mich.«
»Du brauchst mich überhaupt nicht.«
Nach mehreren bis in die Morgenstunden dauernden Mahlzeiten passiert es tatsächlich, dass Renato Leonora inmitten von Beifall und Gelächter vergisst. Wenn er redet, jubeln die anderen ihm zu, Leonora aber versteht kein Wort und erträgt das ständige Gläsergeklingel und die schrille Atmosphäre nicht.
»Zieh nicht so ein Gesicht, das sind alles meine Kumpel.«
Bisher hat Renato ihr gehört, hier in Mexiko aber kehrt er zurück zu seinen alten Saufkumpanen.
›Sei dankbar für das, was du hast‹, hat Nanny immer gesagt, also zählt Leonora auf, was sie hat: ›Mexiko ist weit weg von den Klauen meines Vaters und von Imperial Chemical Industries. Bis hierher wird Carrington niemals kommen. Ich bin frei von Max’ Bevormundung und ich werde mich von allem erholen, wie ich mich von Santander erholt habe. Renato Leduc mit seiner unbekümmerten Lebenseinstellung tut mir gut, er hat nur zu viele Freunde.‹
Wenn der Tag anbricht, legt die Angst sich wieder neben sie aufs Kopfkissen. Dann springt Leonora aus dem Bett und setzt sich ans Fenster, nachdem sie Renato auf Französisch hat sagen hören: »Ich geh in die Redaktion, bis heute Abend.« In Mexiko-Stadt zwitschern Millionen von Vögeln, aber nur Don Mazarino leistet ihr Gesellschaft.
Da Renato nicht zurückkommt, flüchtet Leonora sich in Träumereien. ›Wenn ich träume, kann ich die Einsamkeit abschütteln.‹ Sie kehrt zurück ins Gewächshaus von Crookhey Hall, das zu jeder Jahreszeit warm und feucht war. Im Dezember ging sie hinaus in den Schnee und lief zum Wintergarten, wo der Geruch nach feuchter Erde sie empfing, den sie jetzt mit ihrer Kindheit verbindet. Aus jedem Blumentopf lugte ein grünes Wunder hervor, und zwischen den vielen wuchernden Schlingpflanzen verwandelte Leonora sich in Dampf. Beim Anblick eines Blattes, das sich über Nacht entfaltet hatte, summte in ihrem Inneren etwas Grünes, Seidiges.
Die Erinnerungen an ihre Kindheit helfen ihr durch den Tag. Los, los, die Stunden sollen schnell vergehen, damit der Abend kommt, damit sie Max, Peggy, die beiden Morales, Frau Asegurado und sogar Nanny vergisst, Nanny, die weiß der Teufel wie nach England zurückgekehrt ist.
Seitdem Leonora in Mexiko ist, fühlt sie sich klein und unbeachtet, und das gefällt ihr nicht. Sie träumt davon, in den Körper eines Bären zu schlüpfen, aber sosehr sie sich auch bemüht, nie nimmt das Tier Gestalt an. »Ich verachte mich selbst, und das kann ich nicht akzeptieren, denn ich will mich riesig, mächtig und schön fühlen«, sagt sie zum abwesenden Renato.
›Es muss doch eine englische Botschaft in Mexiko geben …‹
Das Blaue Haus
In der Calle Río Lerma 71, im Stadtteil Cuauhtémoc, steht sie vor der Botschaft.
»Ihre Hunde haben keinen Zutritt.«
»Ich bin Engländerin.«
»Aber Ihre Tiere sind mexikanisch, das sieht man schon von Weitem.«
Doch weil sie so hübsch ist, gewährt der Pförtner ihr Einlass und lässt einen Sekretär rufen, der viele Bücklinge macht.
»Geben Sie mir Ihre Adresse, dann schicken wir Ihnen eine Einladung zu den verschiedenen Veranstaltungen Großbritanniens hier in Mexiko.«
Frühmorgens gehen die Frauen vor die Tür und kehren die Straße mit einem Strohbesen. Noch in keiner Stadt der Welt hat Leonora die Bewohner so sorgfältig ihr eigenes Stück Straße putzen sehen. Langsam und gewissenhaft fegen die Frauen die Blätter zusammen und den Schmutz, den andere hinterlassen haben, und tragen ihn auf einer Kehrschaufel ins Haus, damit am nächsten Tag ein Lastwagen ihn abholt, der sein Kommen mit Glockengeläut ankündigt. Leonora beschließt, Maurie zu schreiben und ihr bei der Gelegenheit ihre neue Adresse mitzuteilen. Schon aus New York hatte sie ihr mehrmals Ansichtskarten vom Empire State Building
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