Frau des Windes - Roman
Kind zu verlieren.«
Leonora geht das ständige Gekreische, das sie an Kneipenlärm erinnert, auf die Nerven, das laute Lachen, das ewige Schulterklopfen, wenn zwei einander umarmen. Was für ein Krach! Und die Gitarren schweigen nie. Kaum haben die Kellner irgendwo ein leeres Tequilaglas entdeckt, füllen sie es erneut, bringen unaufgefordert das nächste Bier, sind ununterbrochen in Bewegung, der Durst ist grenzenlos, Wasser trinkt hier niemand. Manche genehmigen sich ein paar Gläser zu viel und suchen verzweifelt nach ihrer Mutti. Ein Mann in Schwarz mit dickem Schnauzbart schluchzt in sein Halstuch, ein anderer kämmt sich mit der Gabel, und eine mit Goldketten behängte Frau bedankt sich laut bei der heiligen Revolution.
Leonora findet das ununterbrochene Geplärre der Gitarren und das ständige Ay, ay, ay unerträglich.
»Die Leute sprühen nicht gerade vor Intelligenz, alle sind so sentimental.«
»Hier ist ja auch jeder ein syphilitischer Prometheus«, erwidert Renato.
Am nächsten Tag schaut sich Leonora Diego Riveras Fresken an.
»Seine Malerei ist nicht ganz mein Fall«, sagt sie zu Renato.
Der nimmt sie einen Monat später abermals mit ins Blaue Haus. Als Diego ihr diesmal erzählt, er esse Menschenfleisch, unterbricht Leonora, ihre Zigarette in der Hand, den Maler schroff:
»Ach Diego, lass den Unsinn, ich bin keine Touristin, ich bin halb Irin, halb Engländerin.«
»Und ich bin Indio.«
»Du siehst aber nicht aus wie einer.«
»Ach nein? Und wie sehe ich aus?«
»Wie ein Bäcker oder Schuster. Mein Mann hat viel mehr von einem Indio als du.«
»Wer ist denn dein Mann?«
»Renato Leduc.«
»Ach so! Warum sagst du das nicht gleich!«
Die freche Engländerin weckt Diegos Neugier. »Mensch, wo hast du die denn aufgegabelt? Die ist ja göttlich«, sagt er zu Renato. »Dass du ihr Spanischlehrer bist, habe ich schon bemerkt.« Leonora kommt sich vor wie auf einem Karnevalsfest, die Gäste drehen ihre Runden durchs Haus wie die kleinen schnapsgefüllten Tonkrüge. Überall Gekreische und lautes Zugeproste, und Dauerthema ist die mexikanische Revolution. An diesem Abend kommt Frida nicht aus ihrem Zimmer, sie kümmere sich um eine Freundin, heißt es.
»Ihr Himmelbett müsstest du mal sehen.«
Im Garten zittert ein Hirsch, ein grüner Papagei mit gelben Augen kreischt eine für Leonora unverständliche Silbenfolge, und ein Gast erklärt, das habe Frida ihm beigebracht.
Im Blauen Haus leben auch Affen, die ihrer Herrin nicht von der Seite weichen und meistens wie schwarze Ketten an ihrem Hals hängen.
Einmal begegnet Leonora dort dem Maler Orozco, sein wutrotes Gesicht stößt sie ab, und Frida – die ihr schon eher gefallen könnte – erholt sich entweder gerade von einer Operation oder steht kurz vor dem nächsten Krankenhausaufenthalt.
»Weißt du was, Renato, ich habe New York verlassen, um nicht länger Peggys Entourage anzugehören. Da werde ich mich hier in Mexiko gewiss nicht Diegos und Fridas Gefolge anschließen.«
Die meisten Mexikaner, auch Diego, tragen stolz ihre Pistole am Gürtel.
»Ich habe auf einem Pulverfass gesessen und weiß, was Krieg bedeutet. Dieses Heldengehabe ist nichts für mich!«
In den Straßen von Mexiko-Stadt sind Schießereien an der Tagesordnung. Auf Kirchplätzen, bei Hochzeiten in der Nachbarschaft und an Nationalfeiertagen explodieren Feuerwerkskörper. Immer und überall wird geschossen, und bei der kleinsten Provokation schreien die Mexikaner: ›Ich hau dir eine in die Fresse!‹
Renato lädt Freunde nach Hause ein, die zur Gitarre mexikanische Lieder singen. Nach dem fröhlichen Abend summt Leonora beschwingt London Bridge is falling down vor sich hin und denkt bei sich, dass diese Brücke nun endlich auch für sie einstürzen wird.
Tanguito
Leonora lernt, dass der Sonntag den Stieren gehört. Die Stiere sind mehr noch als Messgang, Erholung und heruntergelassene Ladengitter der Inbegriff des mexikanischen Sonntags. In der Stadt dreht sich alles um sie.
Auf gar keinen Fall würde Renato einen Stierkampf versäumen.
»Geh nicht hin!«, bittet ihn Leonora.
In Lissabon haben sie sich seelenverwandt gefühlt, haben zusammen gelacht, hier in Mexiko kommt Renato ihr vor wie ein anderer Mensch. Nie hätte sie gedacht, dass sie allein mit Dicky durch die Straßen laufen würde.
In ihrem Haus in der Calle Artes schüttelt Renato den Kopf und schaut ihr in die Augen.
»Bist du traurig oder sauer?«
»Ich habe schon lange nicht mehr auf einem
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