Frau des Windes - Roman
und jedem, vor Mexiko, vor dir.«
»Weißt du was, bann deinen Hass auf die Leinwand, male deine Phantome, male deine Hunde, deine Katze, deine Kindheitserinnerungen, male deine Mutter, Irland, zwölf Pferde, male, male, sei nicht blöd, hass mich malend, aber tu was!«
»Ich habe doch was getan«, erwidert Leonora verärgert. »Ich habe eine Stute gemalt.«
»Und wo ist das Bild?«
»Steht umgedreht an der Wand …«
Renato entdeckt es und dreht es auf die Vorderseite.
»Das ist ja phantastisch!«
»Diese Stute will aus dem Fenster springen, aber zwei Wärter verbieten es ihr.«
»Glaub mir, das Bild ist großartig.«
»Ich habe noch ein zweites gemalt« – Leonora kommt in Fahrt –, » Artes 110 , unsere Wohnung im zweiten Stock. Allerdings habe ich das Gefühl, da fehlt noch etwas. Nur der Pferdekopf ist mir gelungen.«
Renato umarmt sie.
»Überlass die Kritik an deinem Werk anderen. Ich habe viel Malerei gesehen, und ich kann dir versichern: Dein Bild hat Leben. Machst du also weiter, ja oder nein?«
»Ja, ich glaube, jetzt klappt es.«
»Siehst du, man darf sich einfach nicht so ernst nehmen.«
Remedios Varo
Ein paar Straßenblocks von ihrem Haus entfernt bleibt Leonora wie angewurzelt stehen. In der Calle Gabino Barreda, im Stadtviertel San Rafael, entdeckt sie mitten auf einem brachliegenden Gelände Remedios Varo.
»Du hier? Was für ein unglaublicher Zufall!«
Remedios starrt sie an wie ein Gespenst.
»Bist du es wirklich, Leonora?«
»Und du, Remedios?«
»Ich bin mit Benjamin hergekommen.«
Zwei große, mandelförmige Augen in einem von vollem roten Haar umrahmten Gesicht mit spitzem Kinn lächeln Leonora an. »Ich wohne hier, in dieser Straße, Nummer 18. Ich bin nur kurz runtergegangen, um Zigaretten zu kaufen, aber komm doch mit rauf und schau dir an, wo ich wohne, oben sind auch Kati Horna und Esteban Francés.«
Leonora geht hinter ihr die Treppe hinauf, als stiege sie in den Himmel. Dicky folgt ihr, an den Treppenstufen schnüffelnd, den Schwanz in die Höhe gereckt, und auch Daisy ist neugierig.
»Dürfen meine Hunde mit rein?«
»Natürlich. Aber vielleicht erschrecken sie meine Katzen.«
»Sie gehorchen mir aufs Wort und vertragen sich gut mit Kitty, meiner kleinen weißen Katze. Die ist zu Hause geblieben und hält Mittagsschlaf.«
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Mexiko fühlt Leonora sich wohl. In Remedios’ und Benjamin Pérets Wohnung empfangen sie mehrere an die Wand gepinnte Zeichnungen, eine von Picasso, eine phallische von Tanguy und eine von Ernst, die sie schon kennt. Sie ist auf vertrautem Terrain.
»Tritt ein in dein bescheidenes Heim, wie die Mexikaner sagen.«
Kati Horna streckt ihr beide Hände entgegen. Alle drei Frauen hat der Krieg in die Flucht geschlagen. Kati ist gemeinsam mit dem andalusischen Bildhauer José Horna und mit einem Koffer voller Fotos aus Spanien geflohen und auf dem Weg über Ellis Island im Herbst 1929 in Mexiko eingetroffen. Remedios und Benjamin Péret haben eine gefahrvolle Reise auf einem portugiesischen Schiff hinter sich, auf der Serpa Pinto , deren wahnsinnigem Kapitän nachgesagt wurde, er werfe seine Passagiere über Bord. In Marseille haben sie sich nach Marokko eingeschifft. Das kleinste Wagnis ist Leonora eingegangen.
Benjamin Péret kommt ins Zimmer und freut sich. Nach Ernst fragt niemand, dabei ist er mitten unter ihnen, Leonora hört ihn förmlich atmen.
»Ich bin mit dem Schiff von Lissabon nach New York gefahren und ein Jahr dort geblieben, aber dann wollte Renato Leduc zurück in seine Heimat.«
»Benjamin und ich waren in Marseille, in der Villa Air Bel; Varian Fry und das Emergency Rescue Committee waren unsere letzte Chance zu fliehen. Von Casablanca aus sind wir mit dem Schiff nach New York gefahren. Und da Péret in den USA nicht die geringste Chance hatte, eine Einreisegenehmigung zu bekommen, haben wir uns zu der Reise nach Mexiko entschlossen.«
»Claude Lévi-Strauss, Wifredo Lam und seine Frau, Victor Serge, Laurette Séjourné und ihr Sohn sind nach Martinique gegangen«, informiert sie Benjamin Péret. »Und Pierre Mabille ist aus Haiti hierhergekommen.«
»Unterwegs ist er seekrank geworden, genau wie José, der hat die ganze Zeit in der Kabine gehockt und sich übergeben«, erzählt Kati Horna lachend. »Derweil hat der Kapitän mich an seinen Tisch gebeten. Als ich ihm sagte, außer den Kleidern, die ich am Leib trüge, hätte ich nichts dabei, meinte er nur: ›Kein Problem, kein
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