Frau des Windes - Roman
Ihre Zuneigung ist das, was ich mir im Moment am meisten wünsche.‹ Auch Remedios fühlt sich zu dieser ungewöhnlichen, schlanken Frau hingezogen, die mittags vor ihrer Tür steht und anbietet, ihr in der Küche zu helfen.
»Seit unserer Begegnung bin ich mehr ich selbst«, sagt Leonora. »Ich weiß gar nicht, was ich vorher war. Jetzt bellen meine Hunde und meine Katze miaut, vorher haben sie nicht mit mir geredet.«
Remedios ist der Rettungsring, an den sie sich klammern kann, Kati ihre Begleiterin auf zahlreichen Spaziergängen, und José Horna liebt das Leben und nimmt es von der fröhlichen Seite.
»Ein schöner Mann, dein José!«
»Wir haben uns bei der Internationalen Föderation der Anarchisten kennengelernt, er bat mich, Fotos für seine Plakate zu machen.«
»Jetzt gehe ich nicht mehr unter.«
»Sahst du dich schon am Rande eines Abgrundes stehen? Das kenne ich«, sagt Remedios. »Man muss aufpassen, dass einem die Grübeleien nicht alle Kraft rauben.«
»Ich kann einfach nicht malen, ich kriege nichts zustande.«
»Irgendwas wirst du schon hinkriegen. Pass mal auf, fürs Erste brauchen wir nichts weiter als eine Schere«, sagt Remedios und breitet Zeitungen auf dem Tisch aus. »Da lässt sich schon was finden. In medizinischen Fachzeitschriften habe ich Fotos von Organen, von Medikamenten, chirurgischen Eingriffen, von Pflanzen, Blumen und Tieren entdeckt, die sich hervorragend für Collagen eignen. Und das hier ist ein Schuhkatalog. Seht mal, ihr beiden, aus diesem Ofen hier könnten wir den Körper einer Tänzerin machen, und falls wir irgendwo gerupfte Hühnchen finden, kleben wir sie ihr als Krone auf den Kopf.«
Leonora lächelt Kati zu, die ihre langen Streifzüge durchs Stadtzentrum immer noch nicht satt zu haben scheint.
»Komm doch morgen Abend vorbei«, schlägt Remedios Leonora vor, »dann lernst du Gunther Gerszo kennen. Er ist sehr amüsant.«
Tags darauf steht Leonora mit ihren Hunden vor der Tür, und Remedios’ Lächeln heißt sie willkommen.
»Sieh mal, hier habe ich ein paar Stoffreste für dich. Daraus könntest du Puppen basteln. Nähst du gern? Ich schneidere mir alles selbst, sogar Kostüme nähe ich mir.«
Noch am selben Nachmittag fertigt Leonora eine Puppe aus Stoffresten.
»Sie passt genau zu mir. Wieso, ist mir ein Rätsel«, sagt sie zu Remedios. »Die Kelten glauben ja, dass wir alle einen Doppelgänger haben. Vielleicht ist diese Puppe meine Doppelgängerin.«
»Hast du auch dein Herz genäht?«
»Ja, und dann habe ich es am Kopf befestigt.«
In den nächsten Wochen kommt Leonora mit neuen Puppen zu Remedios.
»Diese kleine Dicke hier mit der Rübennase nähe ich vielleicht irgendwann mal zu Ende. Die hier ist genauso geworden wie Mademoiselle Varenne. Und in der da steckt ein Peyote«, sagt sie mit schelmischer Miene, »man hat mir versichert, dass sie lange leben wird.«
»Da hast du aber einen guten Zeitvertreib gefunden, Leonora«, sagt Kati.
»Ein Zeitvertreib wäre etwas, um die Zeittotzuschlagen, wie die Engländer sagen; aber ich will die Zeit nicht totschlagen, sondern nur verkürzen.«
Remedios gewöhnt sich daran, Leonora mit ihrer wilden schwarzen Mähne die Wohnung betreten zu sehen, in Pullover und Hose und mit Mokassins an den Füßen, dem idealen Schuhwerk für lange Märsche, denn jedes Mal kommt sie zu Fuß aus der Calle Artes und läuft auch wieder zurück.
»Ich glaube, seitdem ich hier bin, habe ich noch nie ein Taxi genommen, nur mit Renato. Ich fahre gern mit der Straßenbahn, er nicht.«
»Was ist eigentlich Renato für dich?«
»Der Grund, warum ich in Mexiko bin.«
»Also hast du ihn Max vorgezogen?«
»Ich glaube, ja, sonst stünde ich jetzt nicht vor dir, sondern wäre noch in New York.«
»War das wirklich deine Entscheidung?«
»Ich weiß nicht, ob es eine Entscheidung war, vermutlich habe ich noch nie im Leben irgendeine Entscheidung getroffen.«
»Natürlich hast du Entscheidungen getroffen. Du hast beschlossen, deine Eltern zu verlassen.«
»Jedes Kind verlässt irgendwann seine Eltern. Nein, Remedios, mir stoßen die Dinge zu.«
Seite an Seite sitzen Remedios und Leonora am Tisch, schneiden Fotos von Boxern, Pferden, Seesternen aus und zerschnippeln Anatomiekompendien und Modemagazine. Leonora legt einen Schuh auf einen Kopf, macht dann aber einen Rückzieher. ›Nein, das sieht zu sehr nach Dalí aus.‹ Stattdessen entscheidet sie sich für einen Baum, um den herum sie Sardinendosen anordnet, und schneidet
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