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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Gepäck verstaut hat. Zur Speicherung seiner Körperwärme wickelt er sich das gesamte Toilettenpapier um den Oberkörper, und eine Stunde später sehen die verdutzten Bewohner von Xilitla eine weiß umhüllte Mumie auftauchen.
    Xilitla ist ein im Schutz der Sierra Madre Oriental gelegenes Kaffeepflanzerdorf in der Huasteca Potosina, eine Ansammlung kleiner Holzhäuser mit Satteldächern. Von hier aus dringt James tiefer in den Regenwald vor, bis er auf ein Paradies mit Namen ›Las Pozas‹ stößt. Dort hat der Fluss Tranquilín zahlreiche Becken voller klaren Wassers geformt. Die üppige Vegetation ist reich an Orchideen, und inmitten dieser prachtvollen Natur erscheint Plutarco Gastélum, ein großer, schlanker Mann, neunundzwanzig Jahre alt, mit breiter Stirn und spitzer Nase.
    Der Neuankömmling bietet ihm ein ungewöhnliches Schauspiel. Groß, vornehm, in eine goldgelb leuchtende indische Tunika gehüllt, gibt er sich ungehemmt seiner Bewunderung und seinem Entzücken hin, und sein Lächeln schwingt sich von Baum zu Baum.
    »Phantastisch, wundervoll!«, jubelt er wild gestikulierend. »Dies ist das Gelobte Land! Hier werde ich mein irdisches Haus erbauen!«
    ›So sind diese Wesen, die den Ozean überqueren, auch Hernán Cortés muss sich derlei geleistet haben‹, denkt Plutarco. ›So begeistert er auch sein mag, dieser weiße Mann ist nur ein weiterer Eroberer; man hat seinen Wünschen zu entsprechen, seinen abwegigsten Launen zu gehorchen.‹
    »Hier, in meinem ureigenen Paradies, trotze ich dem Tod«, ruft James mit ausgebreiteten Armen. Am Abend, nachdem er sich ein wenig beruhigt hat, schreibt er: ›Mein Haus hat Flügel, und manchmal singt es tief in der Nacht.‹
    Die Einheimischen wundern sich über den euphorischen Touristen, der täglich nackt in einem der neun Wasserbecken badet und stundenlang unter den Bäumen sitzt und in einem Heft die Bauten skizziert, die in seinem großen Paradiesgarten entstehen sollen.
    Achtunddreißig Zementskulpturen lässt James in Xilitla errichten: überdimensionale Blumen mit steinernen Blüten, riesige vierblättrige Kleeblätter, Ringe und Schlangen. Als Leonora ihm erzählt, sie wäre gern eine Fledermaus, entwirft er den Fledermausbogen als Hommage an sie und zu Ehren von Max Ernst. Er baut das Haus mit den drei Stockwerken, die auch fünf sein könnten, das Pflanzenhaus, die Tore von Sankt Peter, die Tigerterrasse, den Sommerpalast . Nichts ist da, wo es hingehört, James stellt Bögen auf den Kopf, lässt Pfeiler pendeln, Türen öffnen sich ins Nichts, Eisenstangen und Zement trotzen der Logik und setzen sich allen Unbilden der Witterung aus. Eine Brücke führt in die Tiefe, Balkone schwingen sich selbstmörderisch ins Freie, die Zukunft ist abgeschafft, alle Sicherheiten beseitigt. Die Spinnennetze, die James über dem Abgrund webt, haben nur für ihn Bedeutung. Endlich hat er erreicht, was ihm mit seinen Gedichten nicht gelungen ist: sich zu offenbaren und ›Das bin ich!‹ zu rufen. Im Dschungel von Huasteca stößt er einen Schrei der Genugtuung aus, lässt seine Träume und seine Tiere frei umherschweifen und legt sich in seine riesige tropische Hängematte, um unterm Sternenzelt zu schlafen.
    »Hier ist alles, was ich liebe! Dies ist mein Himmel und mein Abgrund. Meine Lehrmeister sind Piranesi und Gaudí, Escher und Chichén Itzá.«
    Die verdutzten Potosinos gehorchen, ein Bauleiter kalkuliert die Fundamente, die Dicke der Eisenstangen, errechnet Gewichte und Hebel. Nach seinen Anweisungen gießen die Männer Mörtel in wundersame hölzerne Formen, biegen Stangen zurecht, beladen Schubladen mit Zement, richten Ziegelsteine mit der Kelle aus und erlauben sich die Frage, ob ›der Verrückte‹ auch ihnen ein Haus bauen werde. »Natürlich«, antwortet Plutarco und zeigt auf James und dessen Ara Eulalia, den der Engländer auf der Schulter trägt und dem er Wiegenlieder singt oder seine Gedichte aufsagt.
    Wie zur Krönung seines Werks schwebt eine große Wolke aus Monarchfaltern herbei und umflattert seine Zufluchtsstätte. »Wenn du still bist, kannst du ihren Flügelschlag hören, vielleicht sind es deine Schutzengel.« Für ihn allein ist diese Schmetterlingswolke hergeflogen. Der Gedanke, dass die Tiere über viertausend Kilometer zurückgelegt haben, um sich hier in Xilitla fortzupflanzen, so wie er, der die ganze Welt bereist hat, um am Ende Plutarco in die Arme zu schließen, überwältigt ihn. Zum ersten Mal empfindet er, der Weltenbummler,

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