Frau des Windes - Roman
Plutarco zu erobern. Nachdem er ihm ein vierzig Hektar großes Grundstück gekauft und ihm ein Schloss darauf errichtet hat, rezitiert er nun am laufenden Band Sätze des griechischen Plutarch zu Ehren seines Namensvetters, der sich alles mit skeptischer Miene anhört: »Alle Vergnügungen auf jede Weise genießen zu wollen ist unvernünftig; alle zu vermeiden ist gefühllos«, »Ich brauche keinen Freund, der sich jedes Mal mit mir verändert und mein Kopfnicken erwidert, denn das tut mein Schatten besser«.
»Weißt du, dass Plutarch großen Einfluss auf Shakespeare hatte, Plutarquito?«
Pablo schließt sich den Erwachsenen an, Gaby dagegen zieht sich zurück. Mehrmals hintereinander liest er Tarzan , sein Lieblingsbuch; denn hier im Urwald kann er sich bestens vorstellen, wie sein Held sich gemeinsam mit Cheeta an einer Liane von Ast zu Ast schwingt.
Am schönsten findet Gaby, dass er mitten in der Prüfungszeit nicht zur Schule muss.
»Gefällt es dir hier?«, fragt er seine Mutter. »Wir sind im Paradies. Aber die Tore des Paradieses haben große Ähnlichkeit mit denen der Hölle.«
Der Einzige, der sich Sorgen macht, weil Gaby und Pablo die Schule versäumen, ist Chiki.
Als Pablo Edward in seiner Hängematte schlafen sieht, kann er es sich nicht verkneifen, ihm eine Raupe in den geöffneten Mund zu legen.
»Sieh mal, was dein Sohn sich erlaubt hat!«, ruft Edward aufgeschreckt. Am meisten ärgert er sich darüber, dass Plutarco lacht.
Schwitzend, das Haar wie elektrisiert von der Feuchtigkeit, malt Leonora eine große, schlanke Frau mit Widderkopf in Sepiatönen an die Wand, während ihre Söhne spielen und James sich den Strohhut übers Gesicht zieht und wieder einschläft.
In einem seiner Häuser lagert James Gemälde von Varo, Carrington und de Chirico auf die Gefahr hin, dass die zwischen Moos und Wurzeln an den feuchten Wänden lehnenden Werke Schaden nehmen. Der Fußboden ist aus Erde, und in den Ecken sprießen Pilze.
Von Leonoras Söhnen mag James Gaby am liebsten und zeigt es auch. Er schenkt ihm ein hochwertiges Puzzle, auf dem eine Karavelle abgebildet ist. »Die ist ja schön!«, ruft Gaby. Pablo indessen bekommt nur ein lieblos eingewickeltes Päckchen. »Warum schenkt er mir eine Porzellanpuppe? Ich bin doch kein Mädchen«, mault der Junge.
Bevor er abermals auf Reisen geht, trommelt James seine achtundsechzig Maurer zusammen und vertraut ihnen seine Orchideen an.
»Schaut euch diese Wurzeln an«, sagt Edward zu den Männern, »sehen sie nicht aus wie Hoden? Gebt gut auf sie acht! Stellt euch vor, es wären meine.«
Alle nicken.
Im selben Jahr fallen achtzehntausend Orchideen dem Frost zum Opfer.
Die Last des Exils
Durch die Avenida Álvaro Obregón zu laufen und in der warmen Höhle ihrer dunklen Küche Tee zu trinken erinnert Leonora an London. Wenn sie an regnerischen Nachmittagen aus dem Haus geht, versetzt der Geruch nach frisch gemähtem Gras sie bisweilen zurück nach Hazelwood.
Das ohnehin nicht leichte Leben ist für viele Exilanten irgendwann nur noch erträglich mit der Hilfe eines spirituellen Führers, Gurus, Psychiaters oder einer Vaterfigur. Die Sehnsucht nach der Heimat vergiftet manchem das Blut.
»Erkennst du dich in der Agavenreihe wieder, die wie eine grüne Armee über die mexikanische Ebene näher rückt?«, fragt Remedios.
»Im Tequila erkenne ich mich wieder.«
Noch immer hat sie sich nicht an das Geschrei gewöhnt, das alljährlich am 15. September, dem mexikanischen Nationalfeiertag, losbricht, ebenso wenig an die eltern- und obdachlosen Kinder, die streunenden Hunde, das Feuerwerksgetöse an kirchlichen Feiertagen, den Machtmissbrauch, die allgemein gebilligte Unpünktlichkeit oder das unterwürfige ›Zu Diensten!‹. Mit einem Bein steht sie noch in der Welt, aus der sie kommt und von der ein Ozean sie trennt.
Am Tag, an dem ein mexikanischer Beamter sein Jackett ablegen und sich unters Volk mischen und an dem eine Frau ihrem Mann verbieten wird, sie zu schlagen, wird Leonora sich in Mexiko etwas heimischer fühlen. In den Gerichtsgebäuden, den Standesämtern, den Kirchen ist Leonora nur eine Fremde. Das Schlangestehen in der Calle de Bucareli, um seinen Ausweis zu verlängern, ist eine Qual. »Verlängern geht nicht«, heißt es, »erst müssen Sie das Land verlassen und wieder einreisen.« »Sie haben Ihren Wohnortwechsel nicht gemeldet, das wird mit einer Geldstrafe geahndet.« »Wieso? Ist das etwa meine Schuld? Es war doch die Regierung, die
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