Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
Vom Netzwerk:
»Brauchst du irgendetwas?«, fragt er und strampelt sich ab, um es seinem Gegenüber recht zu machen. Da er an die Entsprechung von Zellen und Galaxien glaubt und daran, dass jeder Mensch seinen eigenen guten Stern besitzt, errichtet er ein Planetarium. Ouspenskys Werk Ein neues Modell des Universums ist seine Bibel. Seine Frau Janet gründet eine Klinik für Arme.
    Das Paar erwirbt ein baumbestandenes Grundstück nahe der Papierfabrik der Firma Peña Pobre und errichtet dort ein Zentrum für spirituellen Rückzug, und Leonora verliebt sich in den großen Garten mit seinen Geranien und Wildrosen. Der gleichnamige Park Peña Pobre ist eine grüne Oase in einer Betonlandschaft. Jeder Schüler hat seine eigene Hütte, und im Haupthaus wohnen Rodney, seine Frau und drei Angestellte. Schwebend wie ein Geist wandelt der Guru die Gartenwege entlang.
    »Hier sind wir von der Welt getrennt«, sagt er bei der Begrüßung zu seinen Gästen, »dies ist eine Wüste, die wir allein und schweigend durchqueren müssen. Erschreckt nicht, wenn ihr plötzlich eurer Angst gegenübersteht, dafür habt ihr mich.«
    Pünktlichkeit ist Pflicht, und zu Leonoras Verdruss herrscht Rauchverbot. Als sie dennoch heimlich raucht, wird sie von der Smith-Jüngerin Natascha verpetzt. Beim Mittag- und Abendessen sitzt der geistige Führer am Tischende und liest aus Gurdjieffs Buch Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel vor. Er hat einen Abschnitt mit der Überschrift ›Das Schaf und der Wolf‹ ausgewählt.
    »Was verstehst du unter Schaf und Wolf?«, fragt er Leonora freundlich.
    »Laut Gurdjieff sollen Wolf und Schaf harmonisch miteinander leben. Der Wolf steht für den Körper und das Schaf für die Gefühle – habe ich das richtig verstanden? Ehrlich gesagt, glaube ich nicht an ein Zusammenleben von Wolf und Schaf, und noch weniger begreife ich, dass ich hier nicht rauchen darf.«
    »Wenn du es schaffst, das Rauchen aufzugeben, wird dieser Sieg deine Erlösung sein.«
    »Und wer hat dir gesagt, dass ich erlöst werden will?«
    Nach ein paar Tagen hat Leonora genug. Auch ihre über fünfzigjährigen Mitschülerinnen gehen ihr auf die Nerven; sie benehmen sich wie kleine Kinder, jammern ständig und brechen beim Reden in Tränen aus.
    »Sentimentalität ist eine Art der Ermüdung«, sagt Leonora entnervt.
    Die Frauen erinnern sie an Renato Leducs Motto: »Im Leben sollte man tun, wozu man Lust hat; Sätze, die mit ›Damals hätte ich gern‹ beginnen, sind nämlich Mist.«
    Um ihrem Unmut Luft zu machen, schreibt sie ein an Remedios gerichtetes Tagebuch, in dem sie sich über ihre Mitschülerinnen mokiert und auch Rodney und seine Frau Janet durch den Kakao zieht.
    »Wenn du deine Meditationsübungen machen würdest, statt mit deinem Sarkasmus auf den anderen herumzuhacken«, mahnt der sanfte Rodney, als ahne er, was in ihrem Tagebuch steht, »könntest du von diesen Exerzitien profitieren.«
    »Wohin ich auch gehe, ständig habe ich das Gefühl, einen Sack voller Steine mit mir herumzuschleppen«, erwidert Leonora.
    »Das sind die Steine deines Lästerns, deiner falschen Persönlichkeit, von der du dich trennen musst.«
    »Wie bitte? Ich habe doch keine falsche Persönlichkeit!«
    »Das glaubst du. Man muss tiefer in sich hinabsteigen, sich an Vergangenes erinnern, an der eigenen Maske kratzen, damit das wahre Ich zum Vorschein kommt. Gurdjieff hat gesagt: ›Sorge dafür, dass deine Vergangenheit nicht zu deiner Zukunft wird.‹«
    »Auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, in gewissen Augenblicken bemächtigen sich meine Erinnerungen der Gegenwart.«
    »Die Vergangenheit stirbt, wenn die Gegenwart ihr den Hals abschneidet«, sagt Lillian Firestone mit der Brille auf der Nasenspitze.
    Beim Essen verteilt Janet spärliche Portionen. Als Natascha um Nachschlag bittet, erklärt Janet ihr:
    »Wenn ihr zu viel esst, könnt ihr die kosmische Energie nicht spüren.«
    Janet besteht darauf, dass um zehn Uhr abends das Licht gelöscht wird. ›Bin ich etwa wieder im Kloster?‹, denkt Leonora.
    Besonders unerträglich findet sie Lillian Firestone. ›Ich frage mich, wie die Sterne im Augenblick ihrer Geburt standen‹, schreibt sie an Remedios. ›Wahrscheinlich ist diese blöde Ziege im Zeitalter der Höhlenmenschen geboren.‹ Auch Natascha mit ihrem sanftmütigen Lächeln geht ihr auf die Nerven. »Ich will in den Kosmos eingehen«, wiederholt sie ständig. Als Leonora ihr spöttisch erklärt, das sei wohl nur mit einem Katapult zu

Weitere Kostenlose Bücher