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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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vollbringen kann.«
    »Der beste Psychologe ist die Arbeit«, sagt Kati.
    »Hast du noch nie eine Analyse gemacht?«
    »Mein Analytiker war der Krieg. Heute weiß ich nur eins: Wenn ich morgens nicht aufstehe, tut es keiner für mich.«
    Eva Sulzer, die Besserwisserin, ärgert sich:
    »Leonora, du gehst doch nur zu deinem Therapeuten, um dich nicht zu entdecken. Im Grunde machen die meisten Leute eine Therapie, um sich anzupassen, selbst wenn diese Anpassung zur Abhängigkeit und schließlich zur Zerstörung führt.«
    »Doch, doch, ich will mich kennenlernen und meine Wahrheit finden!«, entgegnet Leonora.
    »Sollte das irgendwann geschehen, wirst du sicher aufhören zu malen.«
    »Die Rote Königin hat zu Alice gesagt, um schneller anzukommen, müsse sie rückwärtsgehen.«
    »Und das machst du in deiner Analyse?«
    »Ja. Während meiner Therapiesitzungen lebe ich wieder in Lancashire, am Arm meines Vaters.«
    »Im Grunde versuchst du, den Platz deines Vaters einzunehmen«, spekuliert Eva.
    »Wieso? Ich bin doch genau das Gegenteil von ihm«, antwortet Leonora ungehalten.
    »Nein, du gleichst ihm. Du bist genauso autoritär und wünschst dir, dass alle von dir abhängig sind! Vielleicht hattest du deshalb immer das Gefühl, dass er dich verfolgt.«
    »Das ist gelogen!«, ruft Leonora.
    Alice ergreift Partei für sie:
    »Leonoras große Fähigkeit ist die Neugier. Die macht ihr so zu schaffen. Wären wir alle so neugierig, würden wir den Geheimnissen des Geistes auf die Spur kommen.«
    »Lieber würde ich den Geheimnissen der Verdauung auf die Spur kommen«, erwidert Leonora.
    »Ein Künstler ist verloren, wenn er sich findet. Sich niemals zu finden ist seine einzige Errungenschaft«, meint Alice.
    »Täglich fünfundvierzig Minuten Meditation, das stimuliert die Hormone«, wirft Leonora ein.
    »Bitte was?«
    »Entschuldigung, ich meinte die Neuronen«, korrigiert sie sich.
    »Wie viele Versprecher und Widersprüche! Wir alle sind unerklärlichen Phänomenen ausgeliefert«, doziert Eva. »Jung hat sich mit der Philosophie der Alchemie befasst und an die göttlichen Wunder der Natur und des Menschen geglaubt. Anfangs hat er Buddha mit Christus verglichen, dann ist er bei Buddha geblieben, weil Christus sich geopfert hat und in der Jungschen Psychoanalyse kein Platz für Opfer ist.«
    »An Jung gefällt mir besonders«, wirft Remedios ein, »dass er zugegeben hat, damals in Afrika habe er es mit der Angst bekommen, als lauter Masai-Trommler und -Tänzer um ihn herumgesprungen seien.«
     
    Von Leonoras Ruhm angelockt, stehen immer häufiger Besucher vor ihrer Tür. Chiki begrüßt sie und zieht sich zurück. Anfangs versucht Leonora, ihn zum Bleiben zu überreden, mit der Zeit nicht mehr. ›Er ist erwachsen‹, denkt sie, ›und wenn er es vorzieht, sich abzusondern, ist das seine Sache‹.
    »Chiki, ich finde, dein Refugium ist das ungemütlichste Zimmer im ganzen Haus.«
    »Die meiste Zeit verbringe ich doch mit euch.«
    »Nein, du bist immer da drinnen.«
    »Und du, du verkriechst dich hinter deinem Qualmvorhang und versteckst dich vor der Welt. Eines Tages wirst du nicht mal mehr deine Söhne sehen.«
    »Ehrlich gesagt bist du es, den ich nicht sehen möchte. Du gibst dir ja ohnehin die größte Mühe, dich in Luft aufzulösen.«
    Chiki zieht sich zurück. Auch nach all den Jahren kann er nicht vergessen, dass die Nazis in einem einzigen Konzentrationslager über eine Million Juden umgebracht haben.
    »Hör auf, dieses ganze Zeug über die Krematorien zu lesen, davon wirst du noch kränker, als du sowieso schon bist.«
    Unablässig kreisen Chikis Gedanken um die Kellerräume mit den gekachelten Wänden. Manche der ehemaligen Konzentrationslager wurden inzwischen zu Museen umfunktioniert; dort liegt auf den Etagenbetten sogar noch das Stroh, auf dem die Skelette schliefen, die einstmals Menschen waren. Besonders beschäftigt Chiki die Geschichte von Ilse Rosenberg, einem Mädchen, das mit vielen anderen in einem Eisenbahnwaggon ins Lager deportiert wurde und auf der Fahrt plötzlich begann, Gedichte aufzusagen. Ein Aufseher hörte sie und befahl ihr, etwas aus dem Faust vorzutragen. Von schauderhafter Stille umhüllt, rezitierte sie Goethe. Der Nazi war ergriffen, doch vor dem Tod in Auschwitz hat das Ilse nicht bewahrt.
    »Du kannst dich nicht ewig an diese Hölle klammern. Hör auf damit, Leonora und deinen Kindern zuliebe«, geht Kati ihn an. »Außerdem ist dein Schweigen verletzend. Leonora sagt, dass du

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