Frau des Windes - Roman
ich sie abgeschüttelt«, erklärt sie.
Eine Woche später sucht Leonora abermals Fremantle auf und findet ihn verführerisch.
»Wie geht es Ihnen nach Ihren Exerzitien bei meinem Freund Smith?«
»Gut. Und das obwohl mir jetzt Tlalpan, Gurdjieff, Ouspensky und die Zehn Gebote im Kopf umherschwirren, und trotz des dürftigen Essens während der Woche, die ich im Schatten seiner Lehren verbracht habe.«
»Sicher haben Sie dort einiges gelernt.«
»Jetzt möchte ich aber von Ihnen etwas mehr erfahren. Ihre Farbtheorie interessiert mich. Man hat mir erzählt, Sie wüssten alles über die Farben Rot, Blau und Gelb.«
Zurück in der Calle Chihuahua, ruft sie:
»Chiki, komm aus deiner Höhle, ich habe ein köstliches Abendessen gekocht!« Chiki gehorcht. »Trotz allem haben diese Exerzitien in Peña Pobre mir einen inneren Frieden beschert, wie ich ihn bisher nicht kannte«, erzählt sie ihm.
»Mal sehen, wie lange er anhält.«
Sich rechtzeitig lösen
Der mittellose Paalen, inzwischen zum dritten Mal verheiratet, diesmal mit Isabel Marín, der Schwester von Lupe Marín, entschließt sich, seine prähispanischen Schätze zu verkaufen. Die Gefahren des Schwarzhandels indes belasten und ängstigen ihn zunehmend, so sucht er Zuflucht in Drogen und Alkohol. Als Anhänger Schopenhauers, für den Selbstmord die intelligenteste Lösung war, setzt er dessen Lehre schließlich in die Tat um und nimmt sich am 24. September 1959 in Taxco das Leben. Er mietet sich ein Hotelzimmer, zahlt im Voraus und hinterlässt sogar ein anständiges Trinkgeld. Sein letztes Selbstporträt zeigt ein verschwommenes, von Kerzenrauch umhülltes Gesicht, gemalt in der von ihm erfundenen Technik der Fumage.
»Selbstmorde erschüttern mich, für mich gibt es nichts Größeres als das Schauspiel des Lebens«, sagt Eva Sulzer weinend.
»Wie ironisch das ist! Vor Jahren hat er einmal aus Knochen eine Pistole gebastelt«, erinnert sich Remedios. »Bretons Hommage in der Zeitschrift Medium passt zu ihm.«
»Ich käme nie auf die Idee, mich umzubringen«, schaltet Leonora sich ein. »Dafür bin ich viel zu neugierig auf das, was morgen geschieht.«
»Also, ich kann Selbstmörder verstehen«, entgegnet Remedios.
»Ich nicht«, sagt Leonora. »Schließlich verbringen wir mehr Zeit tot als lebendig.«
»Na ja«, seufzt Alice, »wenigstens hat er das Leben genossen.«
Eva und Alice trösten einander. Alice findet Hilfe in der Malerei, Eva bei ihrer Fotografie und ihrem Schweizer Vermögen. Beide analysieren Paalen und machen sich Gedanken über die Funktionen des Unbewussten. Zu Paalen besaßen sie, seine beiden Exfrauen, eine in erster Linie psychologische Beziehung, aber Eva war in dem Trio immer die Stärkste.
Eva Sulzer ist eine leidenschaftliche Anhängerin C. G. Jungs und spricht in Freundesrunden viel von ihm. »Er ist einer der größten Ärzte aller Zeiten.« Auch Remedios und Leonora erkennen sich in seiner Traumdeutung wieder.
»Laut Jung sind unsere Träume ein Quell der Selbsterkenntnis. Im Traum offenbaren sich uns die Lügen, mit denen wir leben. Vermutlich ist das Unterbewusstsein ein Zerberus, der sich nicht überlisten lässt. Ohne die Psychoanalyse wäre der Surrealismus gar nicht zu begreifen.«
»Ich kann nicht träumen«, sagt Kati. »Ich habe zu viel zu tun.«
Genau wie Jung interessieren sich Eva, Leonora, Remedios und Alice für okkulte Phänomene und erzählen sich gegenseitig ihre Träume. Kati, Remedios und Leonora beteiligen sich indes sehr bald nicht mehr an den gemeinsamen Gesprächsrunden; sie finden, Alice redet zu viel über den psychischen Ursprung von Schizophrenie, während Eva Sulzer Paalens schlechtes Benehmen kommentiert und Spekulationen über seine vermutlich quälenden Gewissensbisse anstellt. Eva will ständig wissen, was Remedios als Nächstes malen wird. Leonora schweigt zu ihren Plänen. Nur eines betont sie oft: Ihr Ziel bestehe darin, eine Wahrheit zu finden, die sie glücklicher macht. ›Ich will eine „Persönlichkeit“ werden, ein Mensch auf seiner höchsten Seinsstufe.‹ Auch Remedios holt sich Hilfe bei der Psychoanalyse. Und bei Walter Gruen, der ihr jeden Wunsch erfüllt. Chiki dagegen weiß nicht, wie er seine Frau schützen soll.
»Wie kam die Schlange dazu, sich Federn wachsen zu lassen?«, fragt Leonora.
»Ach Leonora, lass mal einen Moment Quetzalcóatl aus dem Spiel!«
»Mit Quetzalcóatl meine ich eigentlich eine namenlose Kraft, die auf die Psyche einwirkt und Wunder
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