Frau des Windes - Roman
manchmal wochenlang kein Wort mit ihr sprichst.«
»Sie hat es nicht anders verdient.«
»Dafür habt ihr beide aber ein Haus mit mehr Licht verdient. Hier fühlt man sich ja wie in einer Tropfsteinhöhle.«
»Das Einzige, was ich mir wünsche, ist ein Haus, das immer voller Freunde ist«, sagt Leonora.
Als sie mit ihren Söhnen aus dem Kino kommt, teilt Chiki ihr mit, Leduc habe angerufen. Der erscheint am selben Abend mit seinem Gedichtband Fabulillas de animales, niños y espantos unterm Arm und bittet Leonora, ihn zu illustrieren. Renato ist ganz der Alte, vielleicht sogar noch etwas charmanter.
»Du hast dich gar nicht verändert«, sagt er zu Leonora. »Ich habe auch ein Kind, eine Tochter, sie heißt Patricia. Ich bring sie mal mit.«
Aufrichtig erfreut über das Wiedersehen, lädt Leonora Renato zum Abendessen ein. Chiki kümmert sich um das Wohl des Gastes, und die Kinder genießen den Besuch, besonders Gaby. Renato und er reden über Literatur, über Swift, Carroll und sogar über Leonoras Verwandte Maria Edgeworth. Womöglich ist Renato der Einzige, der Götter, Menschen, Kobolde kennt, ein Buch, das Leonora seit ihrer Kindheit wie einen Schatz hütet.
»Mit Lewis Carroll hast du vieles gemeinsam, Leonora. Er war Linkshänder wie du.«
»Ich bin nicht Linkshänderin, ich schreibe und male mit beiden Händen und in Spiegelschrift. Und ich stottere nicht.«
Bis spät in die Nacht stellt Gaby dem Gast Fragen zur mexikanischen Politik. Vierzehn Tage später kommt Renato wieder, um Leonoras Zeichnungen abzuholen. »Sie sind toll geworden«, sagt er. Gaby gesteht ihm, dass er Gedichte schreibt.
»Ich auch«, sagt Renato lächelnd.
»Meine Mutter hat mir nie erzählt, dass du Dichter bist.«
»Doch, doch, das bin ich, sie hat sogar früher schon einmal ein Buch von mir illustriert.«
Gaby schlägt auf gut Glück eine Seite auf und liest: ›… Noch einmal so lieben wie einst. / Damals wusste ich nichts von der Kürze der Zeit, / ich verlor viel Zeit, unendlich viel, / heute bleibt für Amouren mir keine mehr. / Liebe von einst, jetzt vermisse ich es, / das schnöde Glück, Zeit zu verlieren …‹
»Gar nicht übel, Renato«, sagt Gaby auf jugendlich arrogante Art.
»Findest du es albern? Inzwischen schreibe ich keine Gedichte mehr.«
»Es ist ein schönes Sonett. Jetzt lese ich dir mal eins von mir vor.«
Mit Leduc kann man sich wunderbar unterhalten. Gaby zeigt ihm, was er schreibt, und befolgt seine Ratschläge.
»Und warum schreibst du keine Lyrik mehr?«, fragt er ihn.
»Wenn man vier, fünf Stunden hintereinander an der Schreibmaschine sitzt und Blödsinn hineintippt, um sich sein Brot zu verdienen, hat man hinterher keine große Lust mehr, der Frau, die man liebt, Gedichte zu schreiben. Weißt du, Gaby, um Romane, Essays, Theaterstücke oder andere anspruchsvolle Texte zu verfassen, müsste ich erst eine Entziehungskur vom Journalismus machen, aber schließlich lebe ich mittlerweile seit über dreißig Jahren davon.«
Gaby schließt daraus, dass der Redaktionssaal mit seinen klappernden Schreibmaschinen wohl doch nur ein Märchen ist oder zumindest ein Roman mit klar umrissenen Charakteren: Lügner, Opportunist, Schmeichler, Emporkömmling. »Niemand von uns schafft ein Werk von Dauer. Wir sind nicht zäh wie die Fliegen«, stellt Renato fest.
In Renatos Mexiko kommen Straßenverkäufer, Lastenträger, Nutten und Zuhälter vor. Gaby indes fragt sich, welches sein Mexiko ist. Mit seinem Vater spricht er Französisch, mit seiner Mutter Englisch. Das Land, in dem er geboren wurde, ist ihm ein Rätsel, bisweilen kommt es ihm fremd, unbegreiflich und sogar grausam vor.
Chiki, Gaby, Pablo und Leonora fragen sich, warum die Leute sich an einen blutenden Jesus klammern und sich andauernd bekreuzigen. Wie Insekten hüpfen ihre Finger über Gesicht, Brust, Schultern und Bauch. Der Körper ist sein eigener Kodex. In Europa lächeln die Heiligen, in Mexiko lässt das Leiden der Märtyrer und der im Fegefeuer schmorenden Seelen einen erschauern.
In manchen Augenblicken wandert Leonora über eine Insel: England? Irland? Tenochtitlan? Vielleicht eine Mischung aus allen dreien, ein Ort, den sie erfunden hat und der die Wesen hervorbringt, die sie an die Staffelei fesseln. Warum wurde der Texcoco-See trockengelegt? Dabei wären wir glücklich, wenn wir Wasser hätten! So oft schadet dieses Land sich selbst. Jetzt ist alles Staub.
Die Stadt überfällt sie an den Straßenecken, wo Schilder an die
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