Frau des Windes - Roman
dem ein hölzernes Gartentor, eine Art Spielzeuggitter, herausragt; am Himmel flattert eine Nachtigall, vor der zwei verängstigte Kinder flüchten. Wie kann ein kleiner Vogel so bedrohlich sein? Auch Leonora verfolgen unbegreifliche Dinge, die sie in dem Bild des Malers wiederfindet. War Harold Carrington die Nachtigall, die sie und Gerard verfolgt hat? Wäre ein Vogel imstande, sie anzugreifen und die Leinwand mit Blut zu besudeln? Vermag das Böse sich in einem kleinen roten Ding zu verbergen, das an einem gemalten Himmel schwebt?
»Dieser Maler interessiert mich sehr, Ursula.«
»Mein Mann ist mit ihm befreundet. Wir laden ihn mal gemeinsam mit ein paar wichtigen Leuten zum Essen ein, dann lernst du ihn kennen, das verspreche ich dir.«
Einstweilen zeigt Ursula ihr Collagen von Ernst. Zeitungsausschnitte und vergilbte Illustrationen aus alten Zeitschriften bekommen bei ihm eine neue, ungeahnte Bedeutung. Alles scheint erlaubt, Jungfrauen und Greisinnen mit nackten Brüsten lächeln ihren Peinigern zu, die im Begriff sind, sie zu foltern, Männer mit Hunde-, Hahnen- oder Kaninchen-, meist aber Löwenköpfen umarmen vornehme Witwen und Tiere, die im wirklichen Leben niemals zusammen sein könnten. Pflanzen und Insekten sind eins, eine Frau ist eine Gardenie, ein Mann ein Elefant. Alles, was sich regt, ist Halluzination. Max Ernst, grausam und sarkastisch, schockiert seine Betrachter. Dürer, Blake, Gustave Doré würden sich im Grabe umdrehen, könnten sie sehen, wie der Löwe von Belfort gesäugt wird, das Maul an einer Dirnenbrust. Max hat aus ihren Figuren Mörder gemacht, nächtliche Banditen, aasfressende Vögel, Zuhälter, unreine Tiere, die eine Frau vergewaltigen und in Stücke reißen.
Warum respektiert dieser deutsche Maler die verwendeten Figuren nicht? Was haben sie ihm angetan, dass er sie auf den Blättern des Collage-Romans Une semaine de bonté mit Pfeilen beschießt? In La femme 100 têtes fügen sich harmlose Illustrationen zu boshaften, perversen Szenen zusammen. Die Spitzenhemdchen und Büstenhalter, aus denen eine Brust hervorschaut, wirken hier lasziver als vollkommene Nacktheit. Entblößte Frauen strecken einem dekorierten General, einem Erzbischof, einem Dandy, einer Sphinx ihren Hintern entgegen.
»Also kann alles Kunst sein?«
»Nein, nicht alles«, erwidert Ursula, »Freilich hatte Max eine glänzende Idee. Sieh mal hier, diese harmlose Radierung, eine Frau, an deren Bett das Wasser hochsteigt. Ein Bildgedicht. Würdest du nicht auch gern auf dem Meer schlafen?«
»Sieht aus wie von einem diabolischen Kind gemacht … Die Vorstellung, jemand anders als Nanny könne mir beim Schlafen zusehen, ist mir unheimlich.«
»Aber keines seiner Bilder hat für so viel Wirbel gesorgt wie das mit der Jungfrau Maria, die dem Jesuskind vor drei Zeugen – André Breton, Paul Éluard und ihm selbst – den Allerwertesten versohlt. Es hat nicht nur fremde Betrachter schockiert, sondern sogar die Surrealisten selbst.«
»André Breton sieht aus wie ein wildes Tier.«
»Ja, auf all seinen Collagen ist er der Löwe.«
»Ich frage mich, was Ernst damit sagen will.«
»Seine Werke sind Antikunst, er rebelliert gegen seine Lehrmeister …«
Max Ernst eignet sich Kunstwerke der Vergangenheit an und entweiht sie. In seinen Händen werden sie zu Beschimpfungen, er übermalt die Klassiker, benutzt sie, um seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Etwas an Max’ Collagen erregt Leonora, ihre Grausamkeit lässt sie erschaudern. Er leiht sich die Dinge nicht nur, er nimmt sie sich, er zerschneidet, zerstückelt, zerreißt, verzerrt, beschmiert. Laut Ursula soll er einmal verärgert gesagt haben: »Man muss die Venus von Milo von ihrem Sockel stürzen.« Die Scherben fügt er zusammen wie jemand, der auf einer Servierplatte ein zerlegtes Hühnchen arrangiert.
»Ehrlich gesagt hätte ich es nie gewagt, in meinem Unbewussten nach solchen Dingen zu suchen. Ich habe viele Bilder in mir, die ich verberge, damit keiner sie sieht. Ozenfant mit dem Kopf einer Elster zu zeichnen war das Äußerste, was ich mir je erlaubt habe. Was Ernst macht, erschreckt mich. Neben ihm ist das siebenköpfige Tier der Apokalypse ein zahmes Täubchen. Ursula, ich spüre den Wahnsinn ganz nah und weiß nicht, wie ich ihm die Tür verschließen soll.«
»Verschließ sie nicht, sei nicht feige. Das alles hat der Große Krieg und der Schwachsinn der Mächtigen ausgelöst. Dadadadadadada.«
»Was ist denn in dich gefahren?«
»Ich
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