Frau des Windes - Roman
Grün auf der Farbpalette fesselt ihn längst nicht so wie Kabel und Schrauben. Handwerkliche Arbeit ist die Essenz seiner Kreativität. Seine Hände, geschickt wie die eines Möbeltischlers, greifen wie selbstverständlich nach Säge und Schleifpapier. Lieber unterhält er sich mit einem Installateur als mit einem von seiner Schöpferkraft überzeugten Kunstmaler.
»Weißt du, Leonora, mein Vater war auch Maler, freilich ein schlechter, denn er hat nur kopiert. Er war Lehrer an einer Taubstummenschule. Ich habe ihn oft begleitet, das Lippenablesen hat mich besonders geschult; deshalb bin ich heute ein besserer Beobachter als andere und kann erkennen, ob jemand Böses im Sinn hat. Ich weiß, wie das Material sich verhalten wird, ich lese nicht nur in menschlichen Gesichtern, sondern auch in der Oberflächenstruktur von Gips, Kalk, Holz, Kohle, Öl.«
Abends in ihrem Zimmer sagt Leonora sich immer wieder: ›Ich bin glücklich, ich bin ich. Was ich in mir habe, galoppiert und wird sich endlich befreien.‹
In einem Haus in Lamb Creek in Cornwall schart der englische Sammler Roland Penrose eine Gruppe von Leuten um sich: Herbert Read, den Autor des Buches über den Surrealismus, das Leonora den Kopf verdreht hat, Man Ray und seine Geliebte, die Tänzerin Ady Fidelin, Paul und Nush Éluard, Eileen Agar und ihren Mann Joseph Bard.
»Warum lädst du nicht deine Freundin ein?«, schlägt Penrose Max vor, »die Kleine ist wundervoll. Wo hast du sie her?«
Leonora ist die Attraktion, die Neue in der Gruppe, die große Entdeckung. Abends tanzen Ady Fidelin, Penroses Frau Lee Miller, Éluards Frau Nush und Eileen Agar nackt im Garten, im Scheinwerferlicht der Wagen ihrer Liebsten. Ady Fidelin schwingt ihre Hüften noch aufreizender als Nush. ›Obszön, pornografisch‹, wird die Presse Max vorwerfen, und der Haftbefehl wird nicht lange auf sich warten lassen. »Und du? Willst du uns nur zuschauen?«, fragt Ady Leonora. Die streift sich im Handumdrehen die Kleider vom Leib. »Das Verrückte öffnet dir die Tore zu deinem Inneren«, versichert ihr Lee Miller, »indem du Dinge tust, die andere verurteilen, begibst du dich in eine andere Dimension und überwindest deine Mittelmäßigkeit.«
Der nächtliche Tanz ist eine Erlösung, Leonora glaubt an sich selbst, an die Schönheit ihres Körpers, in ihrer Nacktheit ist sie eine freie Stute, jetzt könnte selbst die Mutter Oberin nicht anders, als zuzugeben, dass sie zu schweben vermag.
Tagsüber geht sie mit Max spazieren und lernt unzählige Dinge von ihm. Er sammelt Blätter und Rindenstücke, legt sie unter ein Blatt Papier und reibt mit einem Bleistift darüber, bringt ihr so die Frottagetechnik bei.
»Die habe ich schon vor längerer Zeit entdeckt, eines Tages beim Betrachten einer Holzdiele. Ich habe ein Blatt Papier darauf gelegt und so lange mit dem Stift darüber gerieben, bis die Holzmaserung sich in eine Meeresoberfläche verwandelt hatte. Ich sah die Astlöcher und wollte alles bewahren, was das Holz mir sagte, seine Landschaft, seine innerste Poesie, sein Geschlecht.«
Leonora schaut ihn an, er ist besessen, und sie will sich mit ihm in den Abgrund stürzen. Vielleicht ist er geistesgestört, aber er reißt sie mit, und sie kann nicht dagegen an. In seiner Frottage erkennt sie einen Wald, Vögel und hybride Tiere, ihrer Vorstellung völlig fremd. Er verwandelt sie in denkwürdige Materie.
»Ich wusste nicht, dass so viele unsichtbare Geister in einer schlichten Rinde wohnen.«
»Bäume sind mir sehr vertraut; denn in Brühl ist mein Vater zum Malen immer in den Wald gegangen und hat mich mitgenommen.«
Max sammelt Dinge, die niemand beachtet, und erforscht sie, mal eine Faser, mal ein Stück Kork, einen Nagel, ein Haar im Waschbecken. »Du musst über die Malerei hinausgehen«, sagt er und erläutert ihr eines seiner Werke, das er Roland Penrose geschenkt hat:
»Es ist ein Ölbild. Siehst du die dicke Farbschicht und hier, die einzelnen Partikel? Zuerst habe ich Farbe mit Härchen von meinem Arm vermischt und zu einer Paste verrührt und diese Paste dann auf die Leinwand aufgetragen. Später habe ich sie stundenlang mit Schleifpapier bearbeitet, wobei neue Farben und Texturen zum Vorschein kamen, und das hier ist das Ergebnis. Wir werden jetzt diese Leinwand, die ich gerade bemalt habe, abreiben, damit ihre Eingeweide sichtbar werden, ihre Venen, neue Pigmente, sie wird alles preisgeben, was in ihr steckt, du wirst sehen, wie viel sich unter dem verbirgt,
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