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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Finsternis verfasst hatte, und den Surrealismus zur permanenten und bei jedem Einzelnen beginnenden Revolution. Poesie sollte fortan, wie von Éluard gefordert, Fleisch und Blut sein; Männer, Frauen, Greise und Neugeborene sollten am Rande ihrer Sinne leben, sollten Armee, Gefängnisse, Bordelle und vor allem die Kirche zerstören. Die Antwort hatten jetzt Maler, Schriftsteller, Experimentatoren.

Die bedrohliche Nachtigall
    Leonoras Gedanken kreisen nur noch um das bevorstehende Essen mit Max Ernst bei Ursula und ihrem ungarischen Mann Ernest Goldfinger. Für den Abend wählt sie ein schwarzes Kleid. Ihr Haar, tiefdunkel wie ihre Augen, fällt ihr bis auf die Schultern. Es sind schon viele Leute da, als sie vor der Tür steht und ihre flachen Schuhe gegen hochhackige tauscht. Die anderen lässt sie samt Regenmantel und Schirm an der Garderobe und betritt den Salon mit wild pochendem Herzen.
    Leonora ist anders als die übrigen jungen Leute, sie piaffiert, scharrt mit den Hufen, beißt auf ihrer Trense herum, ihre Augen sprühen Feuer.
    »Leonora, Leonora«, ruft Ursula, »komm, du musst die Fotografin Lee Miller kennenlernen, sie ist eine goldene Venus, ein amerikanisches Modell. Dort steht sie, hinten rechts im Salon.«
    Zwischen den plaudernden Grüppchen fällt Leonoras Blick auf einen weißhaarigen Mann, der sie, ohne auf das Protokoll zu achten, begrüßt und sich von all jenen abwendet, die ihn belagern. Über Konventionen erhaben, lässt er Kunstkritiker und mögliche Käufer links liegen. ›Das ist ein freier Mann, ein Mann, dem das Geschäft nicht wichtig ist‹, denkt Leonora, als ein Kellner ihr ein Glas Champagner anbietet. Der Schaum droht überzulaufen, da hält ein fremder Zeigefinger ihn auf. Max Ernst bannt Leonora mit dieser Geste. Ursula stellt sie vor: »Das ist meine liebe Freundin und Kollegin …« Der Maler hört nicht zu, sein Blick gilt allein Leonora, nur ihr wendet er sich zu. Bald lässt Ursula die beiden allein.
    Leonora redet, ihr Mund leuchtet unter den schwarzen Augen, ihr roter Mund, vom Weiß des Gesichts umrahmt, vom dunklen Wald ihrer Haare gekrönt. ›Wie schön sie ist!‹, denkt Max. Wie anders als die Frauen, die er sonst verführt, wie anders vor allem als Marie Berthe, seine Ehefrau! Ernst befreit sich von dem Kunstkritiker und den Verehrerinnen und ergreift ihren Arm. ›Ich begebe mich in höchste Gefahr‹, denkt Leonora. Seine magnetische Anziehungskraft reißt sie mit wie Alice beim Sturz durch den Tunnel ins Innere der Erde. »Verglichen mit den Pariser Ereignissen findet hier in London gar keine Kunst statt, oder?«, sagt eine Frau zu Max, um ihn zurückzuhalten. Eine Giraffe läuft vorbei, um den Hals ein Smaragdcollier, und raunt einem Rhinozeros zu: »Dieser Mann ist unwiderstehlich, was für Augen er hat!« Leonora erschauert, als er ihre Hand ergreift.
    Max strahlt.
    Sie ziehen sich in eine Ecke des Salons zurück.
    »Bist du eine Nachtigall?«
    »Ich bin aus dem Ei geschlüpft, das meine Mutter am 2. April vor sechsundvierzig Jahren in ein Adlernest gelegt hat«, sagt er lachend. »Das war in Brühl, bei Köln. Dort haben elftausend Jungfrauen ihr Leben geopfert, um ihre Keuschheit zu bewahren. Bist du noch Jungfrau?«
    Leonora bewahrt die Fassung. Dieses Genie ist also sechsundzwanzig Jahre älter als sie. Zwischen 1891 und 1917 liegen fast so viele Jahre wie zwischen ihr und ihrem Vater.
    »Wo hat Ursula dich aufgetan? Von dir habe ich geträumt, als die Jungfrau dem Jesuskind den Po versohlt hat. Du hast von der Tür aus zugeschaut, und um zu dir zu gelangen bin ich barfuß im roten Morgenmantel aus dem Haus gerannt, blondgelockt und blauäugig, eine Peitsche in der linken Hand. Zum Bahnhof bin ich gelaufen, wo Kevelaer-Pilger ehrfurchtsvoll ›Das ist das Christkind!‹ raunten und vor mir niederknieten. Ich habe sie gesegnet, und dann haben Nachbarn mich nach Hause zurückgebracht. Mein Vater hat mich bestraft, obwohl ich ihm erklärte, ich sei das Christkind. Später hat er mich dann auf einer kleinen Wolke gemalt, mit einem Kreuz in der Hand statt einer Peitsche.«
    Die nächsten Tage gehören Max. Leonora lernt den Handwerker in ihm kennen. Zirkel, Hämmer, Feilen, jegliches Werkzeug, auch Flamme, Zange, Gussform bedeuten ihm weit mehr als sogenannte Kunstobjekte. Ernst baut, leimt und nagelt, zimmert Kisten, öffnet Türen, hobelt, schnitzt, fügt zusammen. Stärker noch als das Atelier reizt ihn der Eisenwarenladen, und das Mischen von Blau und

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