Frau des Windes - Roman
imitiere Gewehrschüsse. Oder die Reden von Staatsoberhäuptern. 1920 hat Hans Arp, ein Freund von Max, sich mit anderen Künstlern zusammengetan, die vom Krieg immer noch angewidert waren, und eine internationale Dada-Ausstellung in einem Kölner Pissoir organisiert. Die Dadaisten hatten ganz recht: Europa steuert auf eine Katastrophe zu. Ich bin von Natur aus subversiv und rebellisch, genau wie du, und ich glaube, wenn man nicht auf seinen Instinkt hört, macht man sich kaputt.«
»Ich weiß noch nicht, was ich bin, aber bei einer Sache bin ich mir ganz sicher: Ich liebe die Malerei mehr als alles andere auf der Welt.«
»Bei unserer Häutung kann uns Freud den Weg weisen.« Ursula legt eine Hand auf Leonoras Schulter. »Weißt du, was Rimbaud in seinen Seher-Briefen schreibt? Er sagt, der Dichter werde durch eine lange, umfassende und planvolle Verwirrung aller Sinne zum Sehenden. Er müsse selbst nach allen Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns suchen und all seine Gifte ausschöpfen, um nur ihre Quintessenz zu bewahren. Den Weg dahin bezeichnet er als unsägliche Folter, zu der man übermenschliche Kraft brauche. In den Augen der anderen werde man dabei zum großen Kranken, zum großen Verbrecher, zum großen Verdammten und zum höchsten Weisen, denn man gelange zum Unbekannten! Das gelinge aber nur denen, die ohnehin schon eine reiche Seele besäßen, sie pflegten und keine Angst davor hätten, wahnsinnig zu werden.«
»Davor habe ich aber große Angst.«
»Nur wenige gelangen zum ›Unbekannten‹, die meisten fürchten, auf dem Weg dorthin den Verstand zu verlieren und zugrunde zu gehen. Auch Baudelaire hat gesagt, wir müssten durch das Feuer gehen, das uns das Gehirn verbrennt, und in die Tiefe des Abgrunds tauchen.«
Ursula, die Ältere von beiden, bringt ihr Novalis näher, erzählt ihr von Apollinaire und rezitiert für sie Le pont Mirabeau . Breton, sagt sie, habe mit Die magnetischen Felder das surrealistische Schreiben angeregt, diesen Text müsse Leonora unbedingt lesen. Ihr Universum bestand bisher aus Carroll, Blake und den Präraffaeliten, Ursula öffnet ihr die Tore zu den wutgeladenen Chants de Maldoror von Lautréamont, der sich als eine Mischung aus Schakal, Geier und Panther bezeichnet.
»Von Lautréamont stammt auch der Vergleich, den Ernst zu seinem Kredo gemacht hat: ›Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch‹. Vielleicht kannst du seine Nähmaschine sein, Leonora.«
»Oder sein Regenschirm.«
Die internationale Surrealismus-Ausstellung in der Mayor Gallery, an der auch Max Ernst teilnimmt, katapultiert Leonora auf einen fremden Planeten, den sie in jüngeren Jahren für einen nicht zu verwirklichenden Traum gehalten hat. ›Also existiert das, was ich gesucht habe. Und was mich fasziniert, bedeutet auch anderen etwas.‹
Staunend erfährt sie durch Ursula, dass Éluard, Breton und Ernst zu Beginn des Bürgerkrieges nach Spanien reisen wollten, um an der Seite der Republikaner zu kämpfen. Malraux aber habe es sich erlaubt, sie mit den Worten abzuweisen: »Ich suche Männer, die nicht malen können.«
»Sie haben den Weltkrieg miterlebt«, sagt Ursula. »Max war Artillerist. Damals hat er sich selbst für klinisch tot erklärt, mit den Worten: ›Max Ernst starb am 1. August 1914, er kehrte zum Leben zurück am 11. November 1918 als junger Mann, der ein Magier werden und den Mythos seiner Zeit finden wollte.‹ Max hat den Krieg, dieses große Übel der Menschheit, sozusagen als Toter erlebt.«
»Glaubt er denn weder an Gott noch an den Patriotismus?«
»Nein.«
»Meine Brüder haben sich freiwillig zur Armee gemeldet, zur Royal Air Force und zur Königlichen Marine, und ich bin stolz auf sie.«
»Für die, die an der Front waren, sind die vier Kriegsjahre aber noch immer eine entsetzliche Tragödie. Hast du eigentlich Die Traumdeutung von Freud gelesen? Weißt du, wer Hegel ist?«
»Nein, Ursula, nein.«
»Morgen bringe ich dir die Bücher mit.«
Die Surrealisten, viele von ihnen einstige Dadaisten, haben in der Folge des Weltkrieges die Fähigkeit entwickelt, die Kunst in den Dienst ihrer Phantasie zu stellen. Angesichts der Kriegsverbrechen und der Dummheit der Militärs beschlossen Bretons Anhänger, ihren Verstand auszuschalten und sich den höheren Sphären des Unbewussten zu öffnen. Sie machten den vergessenen Dichter Lautréamont bekannt, der Oden an Mord, Gewalt, Sadomasochismus, Blasphemie und
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