Frau des Windes - Roman
was man mit bloßem Auge erfasst. Es ist unglaublich, was diese übereinanderliegenden Bilder in einem auslösen. Schau mal, wie das Stückchen Leinen zerfasert, siehst du die Webfäden? Jetzt leg diesen Faden über den anderen. Erlaubt ist alles, du kannst auch einen Spachtel benutzen, sogar ein Messer, mit der Technik der Grattage kann man die Spuren der Zeit hervorlocken, Hieroglyphen und sogar Schreie.«
»Ich habe das Gefühl, du tust der Leinwand Gewalt an.«
»Genau das ist die konvulsive Schönheit, die beauté convulsive , von der Breton spricht.«
Verzückt folgt Leonora ihrem Meister, balanciert auf Hochspannungskabeln, trennt das Gewebe des Lebens auf …
»Alles Lebendige hat seine Seinsart. Es stimmt nicht, dass Malerei nur das Anbringen von Farbe auf der Leinwand ist. Das liegt hinter uns, die heute bedeutsame Malerei geht viel weiter. Heute kannst du deine Exkremente auf die Leinwand schmieren oder das Leinen aufschlitzen. Tu es einfach! Ahme nicht deine Lehrmeister nach, denn die wirst du nie übertreffen können. Das Leben deines Körpers, deiner Zellen – das ist deine Malerei, Leonora. Du kannst dieses Gemälde bürsten wie dein Haar, kannst es mit Fingernägeln oder mit den Zähnen einritzen, es bespucken, mit deinem Blut bespritzen, mit deinen Tränen salzen.«
Über die Frottage lernt Leonora die sieben Kreise der Hölle kennen. Sie steigt in die tieferen Schichten des Bergwerks hinab. Max zeigt ihr einen Wald, der aus Fischgräten besteht.
»Wie hast du das gemacht?«
»Ich habe eine Handvoll Fischgräten in die Luft gehalten, auf die Leinwand fallen lassen und einen Wald daraus geschaffen.«
»Du lehrst mich sehen«, murmelt Leonora bewundernd, »die Möglichkeiten waren da, das wusste ich, das habe ich gespürt, aber durch dich weiß ich es jetzt ganz genau!«
Ernst gibt ihr ein Blatt Papier und einen Kohlestift und lässt sie die raue Oberfläche eines Holzbretts durchpausen. Sie ist aufgeregt.
»Jetzt trag Farbe auf, und dein Wald wird genauso aussehen wie meiner.«
Leonora zeigt ihm, was sie auf das Durchgepauste gemalt hat.
»Sei nicht so orthodox«, ruft er, »gehorche nicht, mach dich frei, begrab deine Vergangenheit. Was hast du heute Nacht geträumt?«
»Etwas Unmögliches.«
»Dann mal etwas Unmögliches.«
»Ich habe von einem Walfisch geträumt. Er lag im hinteren Teil meines Schlafzimmers, ich selbst war auch ein Wal, und wir beide wollten mich fressen.«
»Das ist ein bekanntes Bibelmotiv, Jonas war sehr einfallsreich. Du wolltest dich also selbst auffressen?«
»Du hast mir dabei geholfen, du und die Tiefe deines Mundes.«
Ernst trägt Farbe auf ein Blatt Papier auf und legt ein zweites Blatt darüber, dann hebt er es hoch, und es tauchen Zypressen, Pappeln, Moose, Farne, Vögel auf. Sie werden zu hybriden Wesen, bei denen Haut, Fell und Federn eins sind. Ernst nennt das Bild Frau, die zum Vogel wird .
Zwei Wochen verbringen Max und Leonora im Zustand der Verzauberung.
Von den Frauen der Gruppe ist es die Fotografin Lee Miller, zu der Leonora sich am stärksten hingezogen fühlt.
»Ich war Man Rays Assistentin und habe mich in ihn verliebt, und ich habe Porträtaufnahmen von Picasso, Éluard und Jean Cocteau gemacht. In Cocteaus Film Das Blut eines Dichters bin ich die Statue; die Kunstkritiker fanden, ich sei das Beste an dem ganzen Werk!«
Sie hat wirklich die ideale Modellfigur. »Weißt du, dass Lee die Werbefotos von Kotex gemacht hat?«, verrät ihr Eileen Agar. Leonora staunt über das Leben ihrer neuen Freundinnen, das voller Herausforderungen steckt.
»Ich habe noch nichts erlebt, ich weiß nichts«, sagt sie zu Lee Miller.
»Gut so, dann wirst du Max noch besser gefallen. Er ist ein Pygmalion.«
Auch die Argentinierin Eileen Agar verblüfft sie mit ihrer Kühnheit, sie ist unendlich wagemutiger als die Engländer aus Lancashire. Leonora will wie diese Frauen sein, die so offen sind für magnetische Strömungen. Sie sprechen ungeniert von ihren Liebhabern, erzählen haarklein von ihren nächtlichen Abenteuern und schwelgen in ihren Gefühlen. Sie wissen, wie man lebt! Lee Miller hat sich in Ägypten an der Seite eines Millionärs gelangweilt und ihn mitsamt den Pyramiden zum Teufel geschickt, ihm aus dem Nil eine lange Krawatte gebunden und ihn mit hängender Zunge am Flussufer stehen lassen. »Ich bin auf einem Sandkamel hierher geritten«, erzählt sie Leonora, die ihr mit offenem Munde lauscht. Eileen Agar macht aus einem Staubwedel einen
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