Frau des Windes - Roman
›und hätte er auch einen ganzen Harem voller Monsterfrauen, bis zu den Zähnen bewaffnet und bereit, mich zu töten – ich würde trotzdem bei ihm bleiben.‹ Sie nimmt sich ein Taxi zu seinem Atelier in Montparnasse, in der Rue des Plantes 26.
›Was auch immer geschieht, ich bin nach Paris gekommen, um zu malen‹, sagt sich Leonora und bittet ihre Mutter, ihr eine Wohnung in der Rue Jacob 12 zu mieten.
Ihr ganzes Leben erzählt sie Max und macht ihn darauf gefasst, dass ihr Vater sie bis nach Paris verfolgen und ihnen beiden das Leben zur Hölle machen werde. »Egal«, sagt Ernst. Schließlich hat Carrington ihr Tartar weggenommen, als sie ihn noch brauchte.
Max stiftet ein im Antiquariat erstandenes Schaukelpferd. Auf dem Bild, das Leonora begonnen hat, The Inn of the Dawn Horse, gesellt es sich zur Hyäne, ihrem zweiten Ich. Gerade führt sie die letzten Pinselstriche an ihrer weißen Hose und ihrer wilden Mähne aus. Tartar flüchtet aus dem Fenster in die Freiheit der Bäume – über alles gilt es hinwegzufliegen. In Leonoras Innerem explodiert das Leben, es gibt kein Zurück, sie galoppiert, wie früher auf Winkie, nimmt jedes Hindernis. Würden ihr auch Drachen mit langen Krallen und Schlangenungeheuer mit Wildschweinschnauzen die Haut zerfetzen, sie würde weiterstürmen. Sie ist ein Fohlen, sie bockt, wirbelt Staub auf. Nichts hält sie zurück. Ihre Kraft überwältigt den Maler. Dass sie ihm bloß nicht entwischt wie das Pferd auf ihrem Selbstbildnis. Jetzt ist sie es, die ihm Sicherheit vermittelt:
»Ja, ich bin hier, Max, wie die Blätter, die du durchpaust, wie die Rinde am Baum, wie die Bäume in der Erde. So wird die Zeit vergehen, und meine Wurzeln werden deine Wurzeln sein, eine über der anderen.«
Ernsts Frau Marie Berthe Aurenche schützt die Künstler vor sich selbst und betet jeden Tag für sie. Falls sie sie nicht unterstützen, falls sie mit Leonora weggehen, wird sie ihnen verzeihen. Sie findet Zuflucht in der Kirche. Bei der Wandlung drehen die Gläubigen den Kopf nach ihr um, weil sie schluchzend am Weihwasserbecken steht und die Arme zum Himmel hebt.
Abends vor dem Schlafengehen wiederholt Leonora die Lektionen ihres Meisters. Der Wahnsinn katapultiert die Surrealisten in eine höhere Sphäre. In England hat sie ein konventionelles Leben geführt, fade vielleicht, aber behütet; hier in Paris wandelt sie am Abgrund, an der Hand des wagemutigsten Mannes der Welt.
Jeder große Maler würde ihm die Arme öffnen. Rembrandt würde ihm einen Platz an seiner Seite geben, Ernst indessen will ihn zerschneiden, ihn zur Collage verarbeiten, ihm Hörner malen. Mut ist gefragt, und Leonora folgt ihm, mit stockendem Atem, alle Sinne hellwach. Max’ Körper verströmt Musik, seine Stimme ist eine Provokation, seine Bewegungen wuchern wie das Efeu, das sich um seine Beine schlingt.
Das Manifest, auf das sich alle berufen, besagt: ›Das stärkste surrealistische Bild ist das, welches einen hohen Grad an Willkür aufweist und für das man am längsten braucht, um es in die Alltagssprache zu übersetzen.‹
»Wie kann man Gerüche malen? Wie schaffe ich es, dass mein Bild stinkt?«
»Schreib es.«
Leonora schreibt Die Debütantin , eine Parodie auf ihre Einführung bei Hofe. Nicht nur stinkt die Hyäne und ist abstoßend, sie lacht auch noch höhnisch und verletzend. Leonora malt ihr milchgefüllte Brüste und Menschenaugen.
»Wie findet denn eine Hyäne Einlass in den Buckingham-Palast, Leonora?«
»Sie tötet ein Dienstmädchen und zieht sich deren Gesichtshaut über, bis die Gäste sie am Gestank erkennen. Musst du heute Abend unbedingt zu deiner Frau in die Rue des Plantes?«
»Warte, bis du sie näher kennenlernst, dann wirst du mich verstehen. Sie ist zartbesaitet, sie weint die ganze Zeit, und meine Freunde lieben sie, vielen hat sie zu einer künstlerischen Karriere verholfen. Sie zu verlassen wird schwierig sein, ich muss behutsam vorgehen.«
»Und für wie zartbesaitet hältst du mich?«
»Verglichen mit ihr bist du der Fels von Gibraltar.«
Ernst verbringt seine Tage und Nächte zwischen seinem Atelier in der Rue des Plantes und der Rue Jacob.
»Für Marie Berthe ist das Ende der Liebe eine Explosion der Eingeweide.«
»Und für dich?«
»Ich bin Loplop, der Vogelobere, und ich bin verrückt nach dir, Leonora.«
»Was bedeutet dieses Loplop?«
»Es kommt von Ferdinand Lop, einem Straßendichter, dessen Namen ich angenommen habe. Ich bin der Vogelobere Loplop.« Max
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