Frau des Windes - Roman
bewusstlos am Boden lag.«
Die Surrealisten ersticken in Gefühlsorgien. Das Schaufenster, in dem sie sich der Welt präsentieren, kann jederzeit in die Luft fliegen. In der Gruppe hackt jeder auf jedem herum, man zerreißt und bespuckt sich: »Cocteau ist ein Chamäleon«, »Tzara hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Seitdem er die Schwedin Nobel geheiratet hat, ist er unerträglich«, »Soupault ist in seinem Automatismus erstarrt und hat seit Ein großer Mann nichts Vernünftiges mehr geschrieben«, »Duchamp hat sich zu Recht über Cézanne lustig gemacht, aber nach drei, vier Meisterwerken hatte er alles gesagt und den Pinsel gegen Schachbrettfiguren eingetauscht«, »Der widerliche Dalí hat sich verkauft, er ist eine Hure«, »Leonor Fini hält sich für eine Gaucho-Kaiserin. Man sollte sie zum Schafescheren nach Patagonien schicken.«
Die Gruppe ist ein zügelloses Pferd und Leonora eine schwer abzuwerfende Amazone. ›Ich bin nach Paris gekommen, um zu malen‹, sagt sie sich immer wieder, erst recht wenn Marie Berthe sie auf die Palme bringt.
Die Windsbraut
Auf dem Autodach reisen die Fahrräder mit in den Süden. Die Franzosen sind fanatische Radfahrer, und Leonora hat Max’ rotes Fahrrad ›Darling Little Mabel‹ getauft und ihr orangefarbenes ›Roger of Kildare‹, vier Räder, die unisono Richtung Freiheit rollen. Nach Marie Berthes Szenen genießt sie es, durchs Autofenster die Landschaft zu betrachten. Ihr Geliebter erzählt ihr von seinem Jugendfreund Hans Arp, der seiner Einberufung dadurch entgangen ist, dass er sich vor den Beamten nackt ausgezogen hat. Skandale entwaffnen die Ängstlichen. Leonora schildert ihm, wie schwer es ihr als kleinem Mädchen fiel, zwischen den Verben ›sein‹ und ›haben‹ zu unterscheiden, und von Mademoiselle Varenne, die sie gezwungen hat, die Verben wie das Einmaleins zu wiederholen.
Es wird warm, sie müssen die Fenster öffnen, und bald kündigt das Zirpen der Grillen an, dass sie im Süden sind. Leonora genießt die große Hitze. ›Das bin ich‹, denkt sie, und plötzlich wird ihr bewusst, dass ihr nicht eine Sekunde von dem, was sie gerade erlebt, entgehen darf, dass Max riesig ist und alles in sich trägt, dass ihr ganzes Leben auf diesen Augenblick zugesteuert hat und ein falscher Schritt oder ein Blick zurück ihren Tod bedeuten kann, dass sie nichts von Max verlieren wird, nicht ein einziges weißes Haar, dass seine Hände auf ihrem Bauch den Klauen des Adlers auf seiner Beute gleichen und er sie nicht fallen lassen wird.
Leonora sitzt am Steuer. »Besonders sicher fühle ich mich nicht«, sagt sie. »In England, Irland und Schottland ist das Lenkrad auf der rechten Seite.« Ihr Geliebter weist ihr den Weg. Sie fahren über eine lange, schmale Brücke, biegen nach rechts ab und sind in Saint-Martin d’Ardèche. Es ist gerade noch hell genug, um mitten auf der Straße zwei überfahrene Igel zu sehen.
»Endlich werden wir zwei alleine leben«, sagt Leonora. »Ich bin bereit, in deinen Armen zu sterben.«
»Und ich in deinen. Aber bevor ich dich verschlinge, lass uns ein Lokal suchen, in dem wir essen können.«
Der Lärm im Gasthaus, in dem sich, am Vorabend des Dorffestes, lauter Brüste und Hinterteile tummeln, gefällt ihnen. Hand in Hand gehen sie zur Bar.
»Ich habe zwei Betten, ohne Bad und ohne Essen«, schreit die Wirtin Alphonsine, als wären sie taub.
»Wie? Essen Sie denn nicht?«
»Ich schon«, erwidert sie und lacht schallend, »aber Sie nicht. Meine Mutter ist zu alt zum Kochen, und ich selbst will nicht mehr arbeiten als nötig. Sie können nebenan essen, bei Marie, die verkauft auch Zigaretten.«
»Meine Schachtel ist auch fast leer«, sagt Leonora besorgt.
»Zeigen Sie uns lieber das Zimmer«, verlangt der Maler.
»Es ist schmutzig. Nach meinen letzten fünf Gästen riechen die Laken nach Speck.«
Alphonsine sieht die Fahrräder.
»Was für Prachtstücke!«, ruft sie. »Darf ich mal nachmittags damit fahren? Ich würde gern einen Liebhaber in einem Nachbardorf besuchen.«
»Natürlich«, erwidert Max.
Ein ganzer Fliegenschwarm und mehrere Skorpione haben das Zimmer in Besitz genommen, dessen Einrichtung aus einem Kartoffelsack, einem getrockneten Knoblauchzopf und einem ausrangierten Herd besteht.
»Fürs Erste wird es gehen. Danach wollen wir auf der anderen Seite des Flusses zelten.«
Marie hat eine Warze im Gesicht wie die Mutter Oberin im Kloster vom Heiligen Grab.
Sie essen Aal mit Senf und trinken
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