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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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ich liebe, hat genitale Verpflichtungen gegenüber einer anderen.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagt ihre Verbündete Alphonsine. »Er schien unbedingt wissen zu wollen, wo du bist. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert. Die Leute im Dorf sagen, sie hatte einen Revolver.«
    »Das glaube ich nicht«, antwortet Leonora wütend.
    »Du siehst aus wie eine arme Irre, komm, ich mache dir einen Kakao.«
    »Ist gut. In der Zwischenzeit laufe ich zur Telefonzelle.«
    Atemlos und mit zerzaustem Haar kommt sie zurück.
    »Nichts Neues.«
    Auch Marie lädt sie ein: »Trink eine Tasse frischen Kaffee. Dabei lege ich dir die Karten.«
    Sie mischt sie und beginnt mit dem Auslegen.
    »Du wirst einen dunkelhaarigen Mann heiraten und zu Geld kommen. Aber es erwarten dich auch Schwierigkeiten.«
    »Wird Max zu mir zurückkommen?«
    »Die Karten sagen nein.«
    Am Abend sitzen im Café ein paar Gäste. Sie trinken Schnaps, und Alphonsine erzählt ihnen vom Unglück der Engländerin.
    »So wie es aussieht, glaube ich nicht, dass ihr Geliebter zurückkommt«, sagt Matthieu. »Ich werde sie zu einem Gläschen einladen.«
    Leonora geht von Tisch zu Tisch, auf der Suche nach seelischem Beistand, und überall spendiert man ihr einen Drink. Dann ruft sie abermals in Orange an. »Nein, es wurde keine Nachricht für Sie hinterlassen«, heißt es. Statt zu Alphonsines Café zurückzukehren, läuft sie zum Fluss, der eiskalt aus dem Gebirge herabströmt. Es hat viel geregnet.
    »Wahrscheinlich bringt die Engländerin sich um«, meint Alphonsine im Lokal, »und der Fluss wird ihren armen kleinen Körper ins Meer spülen.«
    Schließlich ruft Jimmy Ernst an und richtet aus, sein Vater sei zu müde, um nach Saint-Martin d’Ardèche zu kommen. Ob Alphonsine ihm wohl seine Koffer nachschicken könnte? »Auf gar keinen Fall!«, antwortet diese wütend. Sie erzählt es Leonora, die laut flucht.
    »Solche Wörter nimmt eine Dame nicht in den Mund!«, protestiert Alphonsine.
    Gerade will die Engländerin ihr antworten, da hält sie verblüfft inne: Durchs Fenster sieht sie Max auf seinem roten Fahrrad über den Platz kommen. Mit kaputtem Mantel und zerrissenem Hemd geht er die Treppe hoch.
    »Als hätte er die Nacht mit ein paar Tigern verbracht!«, ruft Alphonsine und schlägt die Hände vor den Mund.
    »Komm mit mir, Leonora, ich habe noch nie so gelitten«, fleht Max.
    Kaum hat er begonnen, ihr von seinen Erlebnissen zu berichten, tritt Alphonsine erneut ins Zimmer.
    »Sie kommt.«
    Draußen hört man Geschrei, und es hämmert gegen die Tür. Leonora öffnet und erhält sofort eine schallende Ohrfeige.
    »Schickst du sie jetzt zum Teufel oder gehst du mit ihr weg?«, fragt Leonora Max, eine Hand an der Wange.
    Im Türrahmen steht seine Frau und wartet.
    »Was wirst du tun, Max?«, wiederholt Leonora.
    »Ich weiß es nicht«, antwortet er niedergeschlagen.
    Sein Blick springt von einer Frau zur anderen. Marie Berthe lacht hysterisch.
    »Wenn du es nicht weißt, dann scher dich zum Teufel, jetzt gleich!«
    Max gehorcht, geht hinunter ins Café, und fünf Minuten später sieht sie ihn wieder auf sein Fahrrad steigen und seinen Fuß auf das rechte Pedal setzen, während Marie Berthe beide Hände auf die Lenkstange von Roger of Kildare legt.
    »Mein Fahrrad!«, schreit Leonora.
    Marie Berthe streckt ihr die Zunge heraus.
    Vom Lärm aufgeschreckt, schauen die Dorfbewohner aus ihren Fenstern.
    Ohne jemanden eines Blickes zu würdigen, marschiert Leonora zur Kirche, hockt sich in den Mittelgang und pinkelt vor den Altar.
    »Hier habt ihr euer Weihwasser, ihr beschissenen Heiligen.«
    Mit hochgezogenem Kleid läuft sie zum Fluss hinunter, in dessen schlammigem Wasser lauter Treibholz schwimmt. Der Teil des Ufers, an dem das Zelt gestanden hat, ist verschwunden. Auf der anderen Flussseite entdeckt Leonora ein Gespenst: Max, der sich sein Jackett und sein Hemd auszieht und in den Fluss springt, um zu ihr zu schwimmen.
    Über der Ardèche liegen die ersten Gelbtöne des Herbstes, und das Wasser schimmert golden. Leonora ist froh, dass der Sommer vorbei ist. Die Straßen wirken noch verlassener als sie selbst. Weinblätter streifen ihr Gesicht, ein Vogel fällt ihr vor die Füße und bespritzt den Erdboden mit Blut. Die Grillen zirpen so ohrenbetäubend, dass ihr ganzer Schädel davon widerhallt. Der Lärm tut ihr sogar in den Augen weh.
    Leonora versteckt sich hinter der Kapelle, um Miraldalocks zu rauchen. Da das Inhalieren keine Wirkung zeigt, isst sie die

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