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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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stacheligen Blättchen Stück für Stück, bis ihr Gaumen taub wird. ›Ich bin eine wiederkäuende Kuh.‹ Die Fledermäuse singen eine Bachmesse, Leonora schließt sich ihnen an und singt so laut, dass sie glaubt, die vibrierenden Fenster der Kapelle müssten zerspringen. Nichts wäre schöner als das. Nachdem sie ihr Büschel Miraldalocks aufgegessen hat, kehrt sie ins Café zurück, zu Alphonsine, und findet eine lange, mit einer leinenen Tischdecke bezogene Tafel vor.
    »Was ist los, Alphonsine?«
    »Heute ist Dorffest. Ich möchte dir Panthilde und Agathe des Airlines Drues vorstellen, zwei der großen Persönlichkeiten, die uns die Ehre erweisen.«
    »Und wo ist Drusille de Guindre?«
    »Die haben wir nicht eingeladen.«
    Leonora setzt sich an die Tafel, da sieht sie plötzlich, wie die auf die Tischdecke gestickten Rosen zu wachsen beginnen und bis zur Decke sprießen. Blütenknospen in allen Farben – rote, weiße, blaue, violette, schwarze – öffnen sich und winden sich von der Tischdecke bis zu den Wänden.
    »Bald wirst du dich besser fühlen«, ruft Alphonsine ihr zu. »Du solltest dich nicht so gehenlassen.«
    Ein Strom aus Wein steigt hoch bis zur Tischkante, und Leonora sieht, wie Fonfon einen Kellner ruft, ihm etwas ins Ohr flüstert und auf sie zeigt.
    »Dieses Fest findet dir zu Ehren statt. Du musst eine Rede halten.«
    Die übrigen Kellner kommen aus der Küche, servieren einen Gang und machen kehrt, um den nächsten zu holen.
    »Beeilt euch«, befiehlt Alphonsine. »Wascht die Gläser.«
    »Meine rechte Gehirnhälfte ist genau so mächtig wie die linke«, sagt Leonora zu ihrem Tischnachbarn.
    Sie hebt die Hand zum Kopf und entdeckt, dass er sich in einen Pferdekopf verwandelt hat.
    »Sehe ich irgendwie komisch aus?«, fragt sie den Gast.
    »Ich finde alle Leute komisch«, antwortet der. »Aber du hast ein ziemliches Stutenprofil.«
    »Ja«, sagt Leonora. »Von jetzt an werde ich ein Pferdegesicht haben. Ich kenne einen, der hat seit seiner Geburt einen Schweinskopf.«
    »Und was habe ich für ein Gesicht?«
    »Ein Bärengesicht. Ich bin Engländerin, und meine geliebten Herrscher sind Fledermäuse.«
    Unterdessen ist ein als Engel verkleidetes Mädchen auf den Tisch gestiegen und rezitiert ein Gedicht von Lautréamont, die Gäste zwicken ihr in die Beine, geben ihr Klapse auf den Hintern und schießen ihr Papierkügelchen an den Kopf wie Schüler im Klassenzimmer. Als das Mädchen seine Darbietung beendet hat, hält Alphonsine ihm so lange den Kopf unter Wasser, bis die Blasen verschwinden. Der kleine Körper treibt um den Tisch, und die Gäste bewerfen ihn mit Essensresten.
    »Jetzt macht eure Geschenke auf«, befiehlt Fonfon.
    Die Gäste tauschen Schlangen, Kröten, Nachtigallen, Skorpione, Schmetterlinge, Fledermäuse, Kaninchen, Schnecken, Revolver, Messer und rote, warme Münzen aus. Die betrunkene Agathe des Airlines Drues will unbedingt, dass man ihr das Schießen beibringt.
    »Du weißt ja, dieses Bankett findet dir zu Ehren statt«, wiederholt Fonfon. »Wir warten alle auf deine Rede.«
    Leonora steigt auf den Tisch, verneigt sich, singt Hark, hark, the lark , verneigt sich abermals, zeigt auf ihr Herz und setzt sich inmitten von Beifall wieder hin.
    Sie wird ihr Schwindelgefühl nicht los.
    »Jetzt kommt deine Überraschung«, sagt Alphonsine und stößt ihr einen spitzen Zeigefinger in die Rippen. »Warte nur ab, du wirst schon sehen.«
    Die Zuschauer treten zur Seite, um drei schwarz gekleidete Männer vorbeizulassen. Als sie das Schafott besteigen, sieht Leonora, dass der dritte Mann, der sehr klein ist, ihr auffallend ähnelt. Er trägt einen Korb voller Lilien.
    »Das kann ich mir nicht ansehen«, sagt sie zu Alphonsine.
    »Hast du noch etwas zu sagen?«, fragt ein Henker den kleinen Pummeligen.
    Dann führt er ihn zu einer Guillotine und schiebt ihm ein Kissen unter die Knie.
    »Danke«, ist das Einzige, was der Mann sagt.
    Nach einem dumpfen Schlag fällt der Kopf in den Korb und badet die Lilien in Blut. Leonora erkennt ihren eigenen Kopf.
    »Möchtest du ein totes Ei oder einen verkohlten Fuß?«, fragt ihr Tischnachbar.
    »Ein Stück Zucker.«
    »Ich habe immer Zucker für meine Pferde dabei«, antwortet er.

Der Löwe von Belfort
    In Frankreich sind Telegramme blaue Vögelchen.
    »Bitte sehr. Ihr Blauer«, sagt der Briefträger, der Cheval ähnelt, und überreicht ihr ein zusammengefaltetes Stück Papier.
    ›Komm nach Paris.‹
    »Ich muss sofort los«, sagt Leonora

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