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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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zitternd.
    »Vielleicht hat gar nicht er selbst es aufgegeben«, knurrt Alphonsine. »Ich an deiner Stelle würde ihn anrufen.«
    »Max geht nie ans Telefon. Hilf mir packen, damit ich den Schnellzug in Orange noch erreiche.«
    Im Zug nimmt die Nacht kein Ende.
    Kaum ist sie in der Rue Jacob angekommen, verkündet Max:
    »Ich werde mich von Marie Berthe trennen. Ich habe kein Mitleid mehr mit ihr.«
    Er ist eben ein arroganter Mann.
    Max’ einstiges Mitgefühl mit seiner Ehefrau löst sich in Arbeit auf. Täglich arbeitet er zehn Stunden am Stück. Auch Leonora malt, schreibt und ist am 17. Januar 1938 mit zwei Gemälden – Que ferons-nous demain, Amélie? und L’Assassin silencieux – bei der Internationalen Surrealismus-Ausstellung in Paris vertreten, die anschließend nach Amsterdam wandern wird.
    Am Eingang der Galerie übergibt ein Helfer jedem Besucher eine Laterne, die einen finsteren Tunnel beleuchtet.
    Sechzehn zu beiden Seiten des dunklen Ganges aufgereihte Schaufensterpuppen stellen das ewig Weibliche dar. Die erogenen Zonen der Puppen sind angestrahlt, also nicht zu übersehen, und sollen den Betrachter verwirren.
    Jeder Surrealist hat seine eigene Schaufensterpuppe gestaltet. Ernst, der es gewohnt ist, für Sensationen zu sorgen, hat seine Puppe ganz in Schwarz gekleidet und ihr den Witwenschleier bis über den Strumpfhalter hochgezogen, damit man ihre rosafarbene Unterwäsche sieht. Zwischen ihren Beinen leuchtet eine Glühbirne, und auf dem Boden, zu den Füßen der Witwe, lümmelt sich ein Penner mit dem Kopf des Löwen von Belfort und schaut lüstern zu ihr hoch. Mit seiner rechten behandschuhten Hand befummelt er sie unter dem Slip. Die Strümpfe der Puppe sind löchrig und voller Laufmaschen, und am Boden liegt ein Paar Handschuhe. Sogar Breton ist entsetzt.
    »Du bist zu weit gegangen«, sagt er, »mach wenigstens die Glühbirne aus.«
    Ernsts Mannequin sorgt für einen Skandal und lockt die Fotografen an wie die Fliegen.
    »Ich lebe mit dem Löwen von Belfort zusammen«, sagt Leonora stolz.
    Max ermuntert sie, zu schreiben:
    »Das machst du hervorragend. Was du schreibst, erlöst uns beide.«
    Er illustriert Das Haus der Angst , das sie auf Französisch in die Tasten tippt. Darin lädt ein Pferd sie zu einem Fest im Haus einer Frau ein, die einen Morgenmantel aus lebenden, an den Flügeln aneinandergenähten Fledermäusen trägt. Die Herrin des Hauses der Angst macht ihren Gästen, die allesamt Pferde sind, den Vorschlag, rückwärts um die Wette zu zählen, von hunderteins bis fünf. Dabei sollen sie gleichzeitig mit dem linken Vorderhuf den Takt zu den Wolgaschiffern , mit dem rechten zur Marseillaise und mit beiden Hinterbeinen zu Wo bist du, meine letzte Sommerrose? klopfen. Der Wettkampf dauert fünfundzwanzig Minuten, aber …
    Hier hört Leonora auf.
    »Das ist das Ende? Warum bricht die Geschichte hier ab?«, fragt Max.
    »Mein Traum hört genau in dem Moment auf, als die Herrin der Angst mich sieht.«
    »Und wer ist die Herrin der Angst?«
    »Eines meiner Phantome.«
    Die Surrealisten leben in einem Wirbelsturm, der alle Schranken einreißt. Ist das die Freiheit? Picassos Privatleben besteht schon seit Jahren aus einer Aneinanderreihung von Skandalen, wo immer er auftaucht, auf der Straße, im Café, in den Galerien, dreht sich alles um ihn. Die Frauen, die er malt, wachsen an seiner Seite und schrumpfen wieder, und wenn sie nicht rechtzeitig das Weite suchen, zerplatzen sie wie angestochene Ballons. Gestern noch Königinnen, verkümmern sie heute. Baudelaire hat die Frauen verflucht, sie als ›göttliche Tiger und Ungeheuer mit trägem Gange‹ bezeichnet und zum Märtyrertum verdammt. Ein anderes Idol der Surrealisten ist Rimbaud, Deserteur, Waffenschmuggler, absinth- und haschischsüchtiger Poet, der schon mit sechsunddreißig den Tod fand.
    Breton verfasst seine Manifeste und zwingt die Surrealisten, sie zu unterzeichnen. Manch einer sträubt sich und wird vor die Tür gesetzt. Für Breton ist der Surrealismus eine Lebensform. Ein surrealistischer Dichter darf sich um keinen Preis mit journalistischem Schreiben besudeln. Hat er nichts zum Leben, ist das sein Problem, das er bis zur letzten Konsequenz aushalten muss. Breton hat Philippe Soupault wegen seiner Essays und seiner Poesie aus der Surrealistengruppe ausgeschlossen, den Soziologen Pierre Naville, weil der ihm zu dogmatisch war. Er scheut sich nicht, Marcel Duchamp zu verbannen sowie den Philosophen Georges Bataille, des

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