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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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in die Weinberge und zeigt mit dem Finger auf die großen Pflanzungen. Maurie nickt zustimmend.
    Am vierten Tag reist sie wieder ab, chauffiert von ihrem Fahrer, der in der Dorfherberge übernachtet hat, ohne die Neugier des Gastwirts befriedigen zu können, da er kein Französisch spricht.
    Ernst füllt das Haus mit seiner ungeheuren schöpferischen Energie. Wie ein Maurer mischt er Kalk und Sand und lässt eine Sirene und einen Minotaurus aus der Gartenmauer wachsen. Im Inneren des Hauses bemalt Leonora die Türen mit einem Wesen, das zugleich Vogel und Echse ist. Ernst kauft eine Holzleiter und modelliert mehrere Betonskulpturen: Faun und Sphinxe, eine zweite Sirene mit Flügeln und einem Fisch auf dem Kopf, ein vogelgesichtiges Pferd, Wasserspeier mit Krokodilsmäulern sowie Drachen, die sich um Kälber winden. Leonora formt einen Pferdekopf, und Max beglückwünscht sie.
    »Mach noch mehr Pferde.«
    Das große Basrelief an der Hauswand ist Loplops Werk. Ein Fledermausmosaik auf dem Boden und eine geschnitzte Bank ergänzen es. Neugierig bleiben die Bauern vor dem Haus stehen und fragen sich, was für skurrile Figuren als Nächstes aus der Wand des Liebespaares wachsen werden.
    »Was ist das?«, will der Winzer Pierre wissen und zeigt auf die Skulpturen.
    »Das sind unsere Schutzengel«, erklärt Max.
    »Die sehen eher aus wie Dämonen.«
    »O nein, es sind gute Geister, die Saint-Martin d’Ardèche beschützen werden! Mit unseren Fabelwesen verschönern wir Türen und Wände.«
    Pierre findet Max sympathisch. Leonora geht im Dorfladen ein und aus und schaut nur selten auf, so als fürchte sie, ihr Blick könne den Zauber brechen und ihr Glück sich als Traum entpuppen.
    Sie weiß nicht, dass man sie hier ›die Engländerin‹ nennt. Woher sie kommt, haben die Leute durch den Postboten erfahren, der ihr häufig Briefe mit englischen Marken bringt.
    Eines Mittags entdecken Dorfbewohner die beiden nackt am Ufer der Ardèche. Auf dem Weg zum Fluss haben sie Hemd und Hose abgestreift, jetzt liegen sie auf den warmen Steinen, lachen, spritzen sich nass und spielen Nachlaufen. Dauernd umarmen sie sich, und ihr Gelächter schallt durch die gepflasterten Straßen.
    »Die beiden sind Romeo und Julia, das wird ein böses Ende nehmen«, unkt Alphonsine missmutig, weil das Paar nicht mehr so oft ins Café kommt. Früher haben die beiden jeden Abend eine Flasche Rotwein pro Kopf bestellt, manchmal sogar zusammen drei Flaschen geleert.
    »In Saint-Martin d’Ardèche wird seit dem Mittelalter Wein getrunken«, erklärt Max. »Im Loire-Tal hat der spätere Sankt Martin seinen Esel an einen Weinstock gebunden, um in der Nähe seine Notdurft zu verrichten, und als er wiederkam, hatte das Tier den Weinstock abgefressen. Im nächsten Jahr trug dieser Weinstock bessere Trauben als die anderen. So beschlossen die Bauern, es genauso zu machen wie in der Legende, und beschnitten ihre Reben.«
    Leonora ist begeistert von den Fabeltieren des Malers und ergänzt die Skulpturensammlung durch ihren gegipsten Pferdekopf.
    »Das sind unsere Heiligen, die uns vor zornigen Ehefrauen, feindseligen Vätern und verärgerten Surrealisten beschützen«, erklärt Max Fonfon, als er ins Dorf kommt, um Brot und Wein zu kaufen.
    Nachts betrachten sie den Sternenhimmel. Ernst ist ein Kenner des Firmaments. Dass Leonora immer wieder von Pater O’Connor, ihrem ganz persönlichen Astronomen, anfängt, belustigt ihn.
    Gemeinsam Malen ist wie Zaubern. Leonora beginnt mit ihrem Bild Loplop, der Vogelobere , und ihr Lehrmeister bittet sie, den Untergrund von Einkleidung der Braut zu malen. Er selbst widmet sich dem Basrelief an der Außenmauer und nutzt die Decalcomanie-Technik von Óscar Domínguez, um seine Zypressen zu malen. Auf ein Blatt Papier trägt er schwarze Gouache auf, drückt die bemalte Fläche auf die Leinwand, mal mehr, mal weniger fest, und entfernt das Papier wieder. Seine Schülerin sagt, das Ergebnis gleiche einem Schwamm. An dem Farbgebilde, das zum Vorschein gekommen ist, malt er weiter, benutzt dafür einen sehr feinen Pinsel, und es tauchen Zypressen auf oder noch unerwartetere Dinge: ein Vogelkopf, ein menschlicher Körper, ein Flügel, der rechte Arm einer Frau.
    »Nimm einen Pinsel, Leonora, und bei dir wird auch ein Wald wachsen.«
    »Was ist ein Wald?«, fragt Leonora.
    »Ein übernatürliches Insekt.«
    »Was machen Wälder?«
    »Sie gehen nie früh schlafen.«
    »Was bedeutet für die Wälder Sommer?«
    »Dass Blätter sich in

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