Frau Ella
All das hatte ihr selbst und allen anderen immer geschmeckt, auch ohne Maggi, dieses braune Zeug, das damals plötzlich alle benutzten, als wäre es früher nicht auch ohne gegangen. Auf dem Land hatte es das nicht gegeben. Und dann später diese Fertiggerichte! Wann hatte das überhaupt angefangen? Sie hatte nie verstanden, wie man freiwillig etwas essen konnte, das in einer
Fabrik vorgekocht worden war. Ab und zu eine Konserve, wenn es sich nicht vermeiden ließ, das konnte sie verstehen, aber ganze Gerichte? In der Not mochte das eine Lösung sein, aber doch nur, weil es nicht anders ging. Gut, dass dieses Asiatische offenbar gleich unten gekocht wurde. Trotzdem blieb sie skeptisch, fragte sich, warum man nicht einfach selber etwas kochte. Sie wäre dazu jedenfalls bereit gewesen, doch musste sie natürlich auch etwas bestellen, wo die Freunde ihres Gastgebers so nett waren, nachdem sie sich so unwohl gefühlt hatte, so ganz und gar fehl am Platz. Zum Glück hatte Sascha den Wein aufgemacht, mit dem es jetzt schon sehr viel besser ging. Sie lächelte, als er ihr den letzten Rest nachschenkte und sich ihr gegenüber an den Küchentisch setzte. Sie hatte ihm noch nicht einmal dabei helfen dürfen, den Tisch zu decken! Messer und Gabel lagen kreuz und quer neben den halbvollen Weingläsern. Und Teller fehlten auch noch.
»Prost, Frau Ella«, sagte er. »Schön, dass ich mich für den Melissengeist revanchieren kann.«
»Ach, hören Sie auf, das war Medizin. Ich hoffe wirklich, ich bin Ihnen keine allzu große Last.«
»Denken Sie einfach nicht drüber nach. Selbst wenn Sie mir unglaublich auf die Nerven gehen würden, würde das nichts an der Situation ändern. Sie sind ganz einfach mein Gast, bis dieser Pfleger endlich auftaucht.«
»Sie klingen ja nicht so begeistert, oder irre ich mich?«
»Das hat nichts mit Ihnen zu tun«, sagte er und wirkte plötzlich ganz nachdenklich. »Wirklich.«
»Sind Sie denn nicht zufrieden mit Ihrem Leben, ich meine, abgesehen von Ihrem Auge?«
Jetzt starrte er sie wieder so aggressiv und zugleich ängstlich an, als hätte er das Gefühl, sie wolle ihm Böses. Sie hatte zwar seit vielen Jahren keinen engeren Kontakt mehr zu anderen Menschen gehabt, doch sie war sicher, dass er vor irgendetwas Angst hatte. Aber wovor? Er hatte ja anscheinend alles, außer einer Frau natürlich, aber auch die ließ sich schließlich finden.
»Sind Sie denn zufrieden?«, fragte er.
»Ach ich, ich brauche ja fast nichts mehr. Ich hatte meinen Teil vom Braten.«
»Genau so fühle ich mich auch«, grinste er traurig. »Liegt verdammt schwer im Magen.«
»Ja, aber Sie sind doch nun wirklich ein wenig jünger als ich, Sie haben Ihr Leben noch vor sich.«
»Ja, genau das ist ja das Problem. Immer hat man dieses Leben vor sich, mal näher, mal ferner, aber immer vor sich, nie ist man einfach mal mittendrin. Wie dieser Esel, dem man die Möhre an einer Angel vor der Nase herumbaumeln lässt, und er geht und geht und geht, weil er sein verdammtes Möhrenleben vor sich hat. Die Frage ist, was bringt ihm die Möhre überhaupt? Ich meine, was war zum Beispiel Ihre Möhre? Die Rente? Eine Familie? Hübsche Enkel? Macht? Geld? Ein Reihenhaus?«
Was war denn das für eine Frage? Sie versuchte zu verstehen, was in ihrem Gastgeber vor sich ging. Er wirkte so gesund und so krank, so frisch und so verbraucht. Überhaupt war es gar nicht so einfach, diese jungen Menschen einzuschätzen. Mussten die nicht eigentlich längst verheiratet sein? Kinder haben? Stattdessen stellte dieser Sascha die selbstverständlichsten Dinge in Frage, und sie wusste nicht weiter. Sie hatte ja immer gedacht, sie würde mit den Jahren und der ganzen Einsamkeit langsam immer verrückter, aber solche Fragen hatte sie sich noch nie gestellt. Das Leben als Möhre! Ehe sie etwas zu den seltsamen Gedanken ihres Gastgebers sagen konnte, klingelte es. Sascha stand auf, regelrecht ächzend, wie ein alter Mann, das war ja fast zum Lachen. Kaum hatte er ihr den Rücken zugekehrt, legte sie Messer und Gabel schnell so hin, wie sie zu liegen hatten, und rückte auch die Gläser an die richtige Stelle. Ein bisschen Ordnung musste einfach sein.
»Die feinen Gerichte des fernen Ostens!«, rief der Dicke ihr entgegen. Klaus mit seinen komischen Ausdrücken, den sie sofort gemocht hatte, mit seiner ungezügelten Fröhlichkeit. Er erinnerte sie an die Männer in ihrer Kindheit, die lauten, derben Landarbeiter.
Aus zwei Plastiktüten holte er vier
Weitere Kostenlose Bücher