Frau Ella
ihr nun schon lange nicht mehr passiert, und ausgerechnet bei so einem Festmahl! Jemand stöhnte. Ein Mann. Sie traute sich nicht, das Auge zu öffnen, tastete nach dem Verband, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Wie unbequem sie lag. Hart drückte sich etwas in ihren Rücken, aber sie konnte sich kaum bewegen, so müde, erschöpft und zerschlagen fühlte sie sich nach diesem Essen.
»Und, haben Sie gut geträumt?«, fragte jemand. Sie drehte ihren schmerzenden Kopf, öffnete ihr verschwiemeltes Auge und sah den dicken jungen Mann, zwei Ruder in der Hand, dahinter Wasser. Hinter den Bäumen stand tiefschwarz eine Wolkenbank, während über ihnen noch die Sonne strahlte.
»Schrecklich«, sagte sie.
»Was ist schrecklich?«, fragte von der Spitze des Bootes der andere junge Mann, ihr Gastgeber, Sascha.
»Nichts. Ich habe nur schlecht geträumt. Wo sind wir denn? Es wird gleich gewittern. Müssen wir nicht ins Krankenhaus, meine Sachen holen?«
»Geht es Ihnen nicht gut?«
»Doch, alles ist gut. Ich dachte nur. Es ist doch bestimmt schon spät.«
»Wenn alles gut ist, hat man meistens ein Problem.
Wollen Sie nicht noch eine Nacht bei Sascha bleiben? Ute kommt dann sicher auch vorbei. Wir könnten irgendwas spielen. Sie können uns von früher erzählen.«
»Ach, das ist ja alles lange vorbei.«
»Das ist ja der Witz!«, rief er. »Sie müssen ja wahnsinnig viel erlebt haben in Ihrem Leben. Siebenundachtzig Mal Weihnachten! Diese ganze verrückte Geschichte, das ist der Hammer! Weimar, Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung und die ganzen tausend Jahre dazwischen! Mann, damit würden Sie uns eine Riesenfreude machen! So ’ne echte Zeitzeugin!«
»Was machen wir eigentlich auf diesem See?«, fragte sie.
»Da haben Sie bestimmt ein paar echte Knaller auf Lager, oder?«
»Lass gut sein«, sagte Sascha ernst.
»Amis, Russkis und so weiter? Alter Schwede, da war mal was los.«
»Ist gut, Klaus!«, fuhr Sascha ihn an.
»Mannomann«, sagte der, schüttelte den Kopf und ruderte weiter. »Man wird ja wohl mal fragen dürfen.«
»Schon gut, mein Junge«, sagte sie. »Soll ich Sie denn wirklich noch eine Nacht belästigen?«
Wie stellten die beiden sich das vor? Sie mit ihrem Nachthemd und diesem piekfeinen Kleid und einer Zahnbürste? Sie taten ja ganz so, als hätte es die ganzen Jahrzehnte zwischen ihnen nie gegeben. Die hatten ja keine Vorstellung davon, was es hieß, so einen alten Körper bei Laune zu halten und auch sonst nicht den Überblick zu verlieren bei all den neumodischen Dingen um sie herum. Andererseits konnte sie die beiden jetzt nicht enttäuschen.
»Wir können auf dem Rückweg auch noch kaufen, was Sie brauchen«, sagte Sascha und lächelte.
»Sie müssen auch nichts von früher erzählen«, sagte Klaus.
Sie hatte ja vielleicht ein bisschen viel getrunken und war ein wenig verwirrt von all diesen unerwarteten Erlebnissen, aber selbst ihr war klar, dass die beiden versuchten, sie zu verführen.
»Kommen Sie, ich würde mich freuen. Morgen bringen wir Sie dann nach Hause.«
»Man könnte fast meinen, dass Sie mich alte Klapperkiste mögen.«
»Na, darauf können Sie einen lassen!«, rief Klaus und lachte, lachte ein lautes Lachen, das über den ganzen See hallte, auf dem sie in aller Ruhe umherschipperten, während hinter den Bäumen der erste Donner grollte.
8
IMMERHIN WAREN SIE NICHT vom Blitz getroffen worden. Nur die Sintflut hatte sie mitten auf dem See erwischt, weil auch er nie gedacht hätte, dass an diesem Tag überhaupt etwas schiefgehen könnte. Und Klaus schon gar nicht. Und auf Frau Ella hatten sie nicht gehört. Auf sie, die auf dem Land aufgewachsen war, wo die Menschen noch wussten, wann der Himmel bloß Theater spielte und wann er es ernst meinte. Da lag sie jetzt auf seinem Sofa unter der Decke seiner Urgroßmutter und schnarchte zu irgendeinem Mozart-Konzert. Mozart war genau der richtige Kontrast zu diesem pathetischen Gewitter, das versucht hatte, ihnen Angst einzujagen. Einen Zusammenhang zwischen schlechtem Wetter und schlechten Neuigkeiten gab es zum Glück nur in schlechten Romanen.
Musste er sich nicht dennoch schuldig fühlen? Eine gebrechliche alte Frau aus dem Krankenhaus zu entführen, sie abzufüllen und schließlich in den Regen zu stellen, war sicherlich nicht genau das, was man unter Respekt gegenüber den Alten verstand. Sie hatte sich zwar nicht beschwert, aber meckerte ein Kleinkind, wenn man seinen Schnuller in Amaretto tunkte? Zum Glück
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