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Frau Ella

Frau Ella

Titel: Frau Ella Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Beckerhoff
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man den eitrigen Schorf, der sich über die Tage gebildet hatte, ignorierte, ein mehr oder weniger normales Auge. Er kniff sein gesundes Auge zu und stellte fest, dass er auch so schon wieder hell und dunkel unterschied, ja, er sah sogar verschwommen die Konturen seines Badezimmers. Mehr aber nicht. Bei dem Gedanken, dass da sein Brillenbügel dringesteckt hatte, wurde ihm schlecht. Ein paar Millimeter weiter seitlich, und das Auge wäre komplett dahin gewesen, hatten sie ihm gesagt.
    »So, stillhalten!«, sagte Ute und ging mit einem Tupfer und einer grünlichen Tinktur den Schorf an. »Juckt es?«
    »Klar!«
    »Sehr gut. Dann heilt es.«
    »Wusste gar nicht, dass du vom Fach bist.«
    »Altes Hausfrauenwissen, fast schon genetisch. Meine Oma hatte so einen Riesenwälzer mit sämtlichen Geheimrezepten.«
    »Und dieses Zeug da hast du selbst gebraut?«
    »Quatsch! Ist aus der Apotheke, du Schisser.«
    Manchmal ist Schulmedizin gar nicht so verkehrt, dachte er. Man musste nur an den Fortschritt glauben, daran, dass kluge Männer und Frauen auch in den letzten dunklen Winkel der Welt das Licht der Aufklärung trugen. Auch in seinen Augenwinkel.
    »Die meinten übrigens, dass man Augen eigentlich nicht selber verbinden soll«, sagte Ute.
    »Klar, die wollen ja auch ihr Geld verdienen, ich meine, die Männer von den Apothekerinnen, die Ärzte.«
    »Meinst du wirklich? Das wär ja krass. Ich mach jetzt nur noch einen ganz leichten Verband, damit da Luft drankommt, ja? Ist besser für die Heilung.«
    »Ja, sicher.«
    Dann war vor seinem Auge wieder finstere Nacht. So gut versorgt hatte er sich im Krankenhaus nicht gefühlt, und plötzlich verstand er die Frauen, die ihre Kinder zu Hause zur Welt brachten, und die Alten, die im eigenen Bett sterben wollten. Möglich, dass die technische Ausstattung in seinem Bad nicht ganz die gleiche war wie die im Krankenhaus, wohler fühlte er sich hier aber allemal. Und mittlerweile wusste man ja, wie wichtig das seelische Wohlbefinden auch für den Körper war. Vielleicht konnten sie einen Augenarzt finden, der Frau Ella hier operierte, oder in ihrem eigenen Badezimmer. Schließlich war das keine Lebertransplantation, sondern nur ein kleiner Schnitt. Mittlerweile gab es doch fast alles direkt nach Hause, warum also keinen Augenarzt?
    »Sag mal, habt ihr gekifft, oder bist du verliebt?«, fragte Ute.
    »Wieso denn das?«
    »Na, weil du die ganze Zeit träumst. Jetzt hol mal deine Freundin, damit wir das hinter uns bringen.«
    »Was denn für ’ne Freundin?«
    »Du hast echt einen Knall, Sascha. Dein Gast natürlich, die alte Dame zu Besuch, die Frau, die du gerettet hast, Frau Ella.«
    »Ach so«, seufzte er. Vollkommen unsinnig war diese Panik davor, dass Lina auftauchen würde. Vor irgendetwas hatte er trotzdem Angst. Vor ihr, oder vor sich selbst. Das war letztlich natürlich irgendwie dasselbe. Er musste sich endlich entspannen.
    »Ich versuch mal, sie zu wecken«, sagte er und machte sich auf den Weg.
    Im Wohnzimmer fand er Frau Ella, die mittlerweile wieder seine Joggingklamotten angezogen hatte, auf dem Sofa sitzend, die Augen geschlossen, anscheinend verträumt der Musik lauschend. Was hatte ihn daran nur stören können, dass sie seine Musik mochte? Als hätte er es nötig, sich abzugrenzen, einer alten Dame zu beweisen, dass er neue Wege ging, ein besseres Leben führte als sie. Was war das überhaupt, ein besseres Leben? Sicherlich gab es Entwicklungen, praktische Fortschritte, aber das waren doch eher Fragen des Komforts, nicht des Wesentlichen. Das Leben sei nicht linear, hatte Klaus gesagt, die Dinge folgten nicht einfach eins auf das andere, sondern sie passierten irgendwie. Kausalität war die Religion der Erfolgreichen, die es zufällig geschafft hatten. Ja, sie hatten ihn gelobt für seinen Mut, dieses Experiment mit Frau Ella zu wagen, diese Wahnsinnsaktion, die aus einer reinen Laune heraus entstanden war. Sollte er jetzt stolz darauf sein, dass er besoffen vom Rad gefallen und so eventuell zum Lebensretter geworden war? Andererseits gab es sicherlich visionärere Typen, die genau das wollten, bewusst Entscheidungen treffen, um Neues zu schaffen, wie ein Liebhaber, der seiner Geliebten jeden Abend etwas Neues bieten möchte. Eine eher anstrengende Art zu lieben, zumal wenn es um Sex ging. Jeden Abend etwas Neues, das konnte ja nicht lange gutgehen.
    »Hallo Sascha!«, sagte Frau Ella. »Da bin ich wohl schon wieder eingeschlafen.«
    »Geht’s Ihnen gut? Nicht

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