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Frau Ella

Frau Ella

Titel: Frau Ella Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Beckerhoff
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Neunzigjährige Schwung in sein Leben brachte, wie ein Segel, das vor seinem Boot gehisst wurde und ihn mit hinaus zog aufs Meer. Immer hatte er versucht, rudernd irgendwohin zu kommen, aus eigenen Kraft, unabhängig, hatte übersehen, dass es überhaupt Segel gab, vom Wind ganz zu schweigen.
    Sie hatten die Vorstädte längst hinter sich gelassen, und aus der Entfernung waren nur noch vereinzelt Neubausiedlungen zu sehen. Langsam waren sie wirklich draußen, zwischen Kühen, Rapsfeldern und Windrädern. Er sah, wie Frau Ella auf eines der weißen Monstren zeigte und Klaus etwas fragte, das er im Fahrtwind nicht verstehen konnte. Die Antwort hätte er gerne gehört. Frau Ella mit ihrem seidenen Kopftuch und der gigantischen Sonnenbrille jedenfalls lachte. Wie gut Klaus reagiert und sein zweifelhaftes Werk auf ihrem Kopf sofort gelobt hatte. Das war sicher nicht die beste Idee gewesen, alles so glatt wie möglich zu kämmen. Er hätte nie gedacht, dass auch Frauen im Alter ihre Haare verloren. Man sah sie ja auch nur selten glatzköpfig.
    Ordnung war schon eine zweischneidige Sache, überlegte er. Zeigte sie doch gnadenlos, wie die Dinge wirklich waren. Ein verwirrter Kopf konnte sich zumindest einbilden, dass da irgendwo noch ein kluger Gedanke versteckt war, auf einem chaotischen Schreibtisch konnte man hoffen, einen vergessenen Bernstein, Geld oder die vergessene Perlenkette einer Großtante zu finden. Herrschte jedoch Ordnung, bestand die Gefahr, dass man auf den ersten Blick erkannte, dass da nichts war, oder nur sehr wenig, so wie auf ihrem Kopf. Nein, so ein paar Locken waren schon gut, um durchs Leben zu kommen, ohne die Hoffnung zu verlieren. Und wer konnte schon wissen, was wirklich wirklich war.
    Sie hielten auf dem Platz des Dorfes, an dessen Namen Frau Ella sich zum Glück erinnert hatte. Anstelle der Schaufenster schmückten Holzplatten die Läden der umliegenden Häuser, kein Mensch war zu sehen. Ein hinkender Hund näherte sich auf der staubigen Straße ängstlich dem Wagen. Unter diesem stählern blauen Himmel, in dieser vollkommenen Stille, in der nur das Knacken des Motors zu hören war. Der Hund trug seinen Schatten genau unter sich. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte zwölf Uhr mittags.
    »Wir müssen links an der Kirche vorbei«, sagte Frau Ella. »Die Straße Richtung Grenze.«
    »Sind Sie sicher?«, fragte Klaus.
    »Aber natürlich, mein Junge. Ich habe hier schließlich meine Kindheit verbracht.«
    »Sie haben recht. Sieht nicht so aus, als hätte sich hier seitdem groß etwas verändert.«
    »Wenn Sie wüssten, was hier früher los war!«
    Der Hund sprang jaulend zur Seite, als die Reifen durchdrehten. Hinter einem Fenster im ersten Stock eines der verlassenen Häuser meinte Sascha eine alte Frau zu erkennen. Undeutlich, unwirklich, so staubig war alles. Er hoffte, dass er sich getäuscht hatte.
    Das Dorf bestand anscheinend nur aus einer einzigen Straße. Nahtlos gingen die Gärten der Häuser in Felder über und dann bis zum Horizont, und irgendwo da hinten war die Grenze. Auf die hielt Klaus zu, ganz rennfahrender Lebemann. Jedes andere Auto als ein tiefergelegtes Cabrio hätte Probleme gehabt, unter den herabhängenden Zweigen der offenbar seit langem nicht mehr beschnittenen Alleebäume einen Weg zu finden. Frau Ella lachte ungläubig, vielleicht ängstlich. Klaus mit seinem Kleinejungenstrahlen legte sich geschmeidig in die Kurven. Wer einem hier wohl zur Hilfe kam, wenn man sich in den Graben verirrte? Verschrobene Landgestalten, die ihre degenerierten Lüste an wehr-losen Opfern auslebten. Womöglich manipulierten sie die entscheidenden Kurven, gossen Öl auf die Fahrbahn, legten Nägel aus. Er musste sich entspannen. Weit konnte es ja nicht mehr sein.
    Nach einer kleinen Steigung schrie Frau Ella plötzlich auf und zeigte nach rechts. Er knallte mit dem Kopf an die Rückenlehne des Fahrersitzes, die Reifen quietschten. Also doch. Die Beschleunigung im Rückwärtsgang warf ihn gleich noch einmal nach vorne. Das war schon interessant, dass eine Beschleunigung nach hinten den gleichen Effekt hatte wie die Entschleunigung nach vorne. Das hieß, dass sein Sturz vom Fahrrad den gleichen Effekt hatte wie ein Sprung in die Vergangenheit. Seine Begegnung mit Frau Ella war letztlich also nur logisch, entsprach sozusagen den Gesetzen der Physik. Das waren mal Gedanken. Doch schon ging es, jetzt etwas sanfter, wieder in die andere Richtung, bergab auf einem Schotterweg, den ordentlich gestutzte

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