Frau Holle ist tot
Regal hinter
seinem Schreibtisch und griff nach einem Ordner, blätterte eine Weile darin.
Schließlich schien er etwas gefunden zu haben.
»Das ist eine ganz traurige Geschichte. Knuth
Schneider hätte eigentlich nicht in einem Heim für Behinderte untergebracht
werden dürfen. Aber so etwas kam damals des Öfteren vor. Ich erinnere mich an
ihn, weil sich Frau Dr. Holler sehr um ihn bemüht hat. Es ist ihr
Verdienst, dass er 1985 in ein Leben außerhalb des beschützten Raumes unserer
Einrichtung entlassen werden konnte. Wie kommen Sie auf ihn?«
»Wir haben Hinweise, dass er mit Frau Holler Kontakt
gehalten hat und ihr feindselig gesonnen war.«
Strecker hob eine Augenbraue. »Auch Knuth Schneider
hat Frau Dr. Holler verehrt. Aber er war einer, der die Schuld für seine
Lage immer bei anderen suchte. Der zu keinerlei Selbstkritik fähig war. Er hat
genug in seinem Leben erlebt, um jede Art von Ressentiment zu entwickeln. Er
war kein einfacher Mensch.«
»Wissen Sie, wo er zurzeit lebt?«
»Es muss hier in der Gegend sein. Er hat jedes Jahr
den Vortrag von Sylvia besucht.« Strecker blätterte in seinen Unterlagen. »Als
wir ihn entließen, zog er nach Rüdesheim, um im Weingut Brauner zu arbeiten.«
»Ich bin überrascht, dass Sie seine Akte hier in Ihrem
Büro griffbereit haben. Ich hätte vermutet, dass sie in irgendeinem Archiv
verstaubt.«
Strecker lächelte gequält. »Schneider war einer der
Bewohner, die uns nach ihrer Entlassung viel Ärger gemacht haben. Seine
Anschuldigungen waren völlig überzogen und größtenteils haltlos. Eine Kopfnuss
von einer Nonne, ein unangemessen langer Arrest, mehr war da nicht. Es gibt
keinerlei Beweise für sexuellen Missbrauch, den er uns vorgeworfen hat. Aber er
hatte eine schwere Kindheit, bevor er zu uns kam. Das erklärt vieles.«
»Was genau waren seine Anschuldigungen? Gegen wen
haben sie sich gerichtet?«, wollte Mayfeld wissen.
Streckers Miene wurde immer verschlossener. »Ich habe
Ihnen wahrscheinlich schon viel zu viel erzählt. Ich sehe keinen Sinn darin,
mich mit Ihnen über längst widerlegte Vorwürfe zu unterhalten, über angebliche
Vorkommnisse, die mehr als fünfundzwanzig Jahre zurückliegen und sowieso nie
stattgefunden haben. Haben Sie sonst noch Fragen?«
Von dem Prälaten würde er nichts mehr erfahren.
»Vielen Dank für Ihre Offenheit«, sagte Mayfeld zum
Abschied.
Auf dem Weg zu seinem Auto rief Mayfeld Meyer im
Polizeipräsidium an. »Besorg mir alles, was wir über Knuth Schneider aus
Rüdesheim haben, und ruf mich sofort zurück!« Meyer versprach, sich umgehend
darum zu kümmern.
Bevor sich Mayfeld in seinen Wagen setzte, rief er das
Weingut Brauner an. Er müsse wegen einer dringenden Angelegenheit ihren
Mitarbeiter Knuth Schneider sprechen, wo er den finden könne?
Schneider arbeitete tatsächlich noch in dem Weingut.
Frau Brauner bat um etwas Zeit und teilte dem Kommissar dann mit, Herr Schneider
sei mit einem Trupp von Lesehelfern im Rüdesheimer Bischofsberg.
»Lese?«, fragte Mayfeld verblüfft. »Die ist doch seit
drei Wochen beendet.«
»Wir haben doch bald die Tage des Federweißen«,
erklärte Frau Brauner. »Der Termin steht schon lange fest. Wir können den nicht
verlegen, bloß weil die Lese früher stattgefunden hat, schließlich kommen viele
Gäste wegen des Festes und haben Hotels gebucht. Deswegen haben wir in ein paar
Wingerten die Trauben hängen lassen, und die werden jetzt rechtzeitig zum Fest
gelesen.«
Mayfeld bedankte sich für die Auskunft und klappte das
Handy zu. Der alte Volvo war von seinem eigenen Ernteeinsatz in den vergangenen
Wochen noch mit einer grauen Staub- und Schlammschicht bedeckt, die die
ursprüngliche Farbe, die der Hersteller vor vielen Jahren einmal als
champagnerfarben bezeichnet hatte, kaum noch erkennen ließ. Er klopfte auf das
betagte Blech seiner nunmehr weinbergfarbenen Karosse und stieg ein.
»Auf geht’s in vertraute Gefilde!«
Ganz normal waren solche Zwiesprachen mit einem Auto
bestimmt nicht. Aber im nächsten Jahr würde sein 240-er Oldtimerstatus
erreichen. Da durfte man sich so etwas erlauben, fand der Kommissar.
Er fuhr den Weg, den er gekommen war, zurück. Von der
Höhe kommend, bot die Straße einen spektakulären Blick auf Rüdesheim, das
Rheintal und die Rochuskapelle, die auf der gegenüberliegenden Seite des
Flusses über Bingen thronte. Unterhalb der Jugendherberge bog er rechts in
einen geschotterten Feldweg ein. Nach den Schilderungen von Frau Brauner
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