Frau Holle ist tot
deutete auf ein Bild, das einen Mann mit
verwischtem Gesicht, nacktem Oberkörper und offener Hose zeigte. »Gefangen«
hatte der Maler das Werk genannt.
»Das ist halt Kunst, da kannst du nichts machen«, sagte
ein älterer Mann.
»Was ist eigentlich so schlimm an dem Bild?«, wollte
eine junge Frau wissen. »Ist doch eh nichts zu erkennen.«
»Ich fühle mich dadurch belästigt!« Die Kollegin
beharrte auf ihrer ablehnenden Sicht der Dinge.
»Der Kerl macht seine Hose auf, und im Hintergrund ist
eine Babytrage zu sehen«, ereiferte sich eine weitere Frau. »So was Perverses
muss man sich nicht ansehen.«
Mayfeld fragte nach Grewes Büro.
»Ein Stockwerk hoch, dann links den Gang entlang die
vorletzte Tür rechts«, beschied ihn eine der empörten Frauen. »Ich häng das
jetzt ab«, hörte er sie im Weitergehen sagen.
»Oliver Grewe« stand auf dem Schild neben der Tür, an
die Mayfeld klopfte, bevor er eintrat. Grewes Büro war so zweckdienlich
eingerichtet, wie das ganze Gebäude anmutete, wenn man von der Ausstellung des
Künstlerkreises absah. Deutsche Bürotristesse. An der Wand hing eingerahmt ein
Foto, das eine Familienidylle zeigte: Mama, Papa, zwei Töchter und ein Hund.
Grewe war ein groß gewachsener, kräftiger Mann um die
fünfzig, dessen Haar begonnen hatte, grau und schütter zu werden. Das einzig
Bemerkenswerte an seiner Erscheinung war das Halstuch aus roter Seide, das
unter dem weißen Hemdkragen hervorlugte und das er sich unter dem Kinn zu einem
Knoten zusammengebunden hatte.
»Kriminalpolizei? Ich befürchte, Ihr Besuch bedeutet
nichts Gutes«, eröffnete Grewe das Gespräch, nachdem Mayfeld sich ausgewiesen
und auf dem unbequemen Besucherstuhl vor dem furnierten Schreibtisch Platz
genommen hatte.
»So ist es. Ich ermittle im Mordfall Sylvia Holler.«
Grewes Gesicht wurde blass. »Sie wurde ermordet?«,
stammelte er. »Das ist ja fürchterlich.« Er lockerte den Knoten seines
Halstuchs. »Und warum kommen Sie mit dieser entsetzlichen Nachricht zu mir?«,
fragte er dann.
»Sie waren einer der Letzten, der mit ihr telefoniert
hat«, erklärte Mayfeld.
»Mein Gott, wer tut denn so was?«, fragte Grewe
ratlos, griff nach einem Kugelschreiber und kritzelte etwas auf den vor ihm
liegenden Block.
»Das will ich herausfinden. Worum ging es bei dem
Gespräch, das Sie mit Frau Dr. Holler führten, und ist Ihnen an ihr
irgendetwas aufgefallen?«
»Sie müssen entschuldigen, ich muss diese Nachricht
erst mal verdauen.« Grewe dachte einen Moment nach. »Es ging um die
Weihnachtsfeier im Kreishaus. Ich kenne Frau Holler schon seit Langem, wir
hatten beruflich immer wieder miteinander zu tun. Und da kam ich auf die Idee,
sie als Märchenerzählerin zu engagieren. Und natürlich überhaupt zu der Feier
einzuladen. Bei so einer Gelegenheit kann man Kontakte pflegen, Leute persönlich
kennenlernen, mit denen man sonst nur am Telefon zu tun hat. Solche Dinge waren
Frau Dr. Holler wichtig.«
»Um berufliche Dinge, gemeinsame Klienten, ging es bei
dem Telefonat nicht?«
Grewe schüttelte den Kopf. Er schien sich wieder
beruhigt zu haben.
»Sie sagten, Sie hätten mit Frau Holler immer wieder
beruflich zu tun gehabt. Was waren das denn für Berührungspunkte?«
Grewe sah Mayfeld aufmerksam und nachdenklich an.
»Glauben Sie, dass ihr Tod etwas mit ihrer beruflichen Tätigkeit zu tun hat?«
»Vielleicht. Vielleicht nicht. Beantworten Sie bitte
meine Frage: Was waren das für Berührungspunkte?«
»Wir betreuen unter anderem Familien, die Probleme bei
der Erziehung ihrer Kinder haben, ich gehe entweder selbst in die Familien, um
zu beraten, überwiegend koordiniere ich jedoch die Arbeit meiner
Mitarbeiterinnen. Da kommt es vor, dass ein Kind oder ein Elternteil außerdem
zum Psychotherapeuten geht. Das sind dann meine Berührungspunkte mit Frau Dr. Holler
gewesen.«
»Aber bei dem Gespräch am Freitag ging es nicht um so
einen Fall, sondern um Ihre Weihnachtsfeier?«
»Das habe ich doch schon gesagt«, antwortete Grewe
etwas indigniert.
»Herr Grewe, Frau Holler hat Sie angerufen, nicht Sie
Frau Holler.«
Einen Moment schien Grewe irritiert. Dann verstand er
den Einwand des Kommissars. »Ja und? Ich hatte sie Anfang der Woche angerufen,
und sie hat mich am Freitag zurückgerufen, um ihre Teilnahme an der Feier
zuzusagen.«
»Im Moment ist keiner Ihrer Klienten Patient bei Frau
Dr. Holler?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Mayfeld seufzte. Diese Spur schien ins Nichts zu
führen. »Wie
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