Frau Holle ist tot
deutete auf das
Plakat, das für Frau Holle und die Märchenharfe warb.
»Und kennen Sie ihre privaten oder beruflichen
Freunde?«, hakte Mayfeld nach.
»Sie hat ein paar gute Freunde aus dem Kollegenkreis,
mit denen sie sich regelmäßig trifft, für Fallbesprechungen und auch privat.
Mit ihrer Familie hatte sie nicht so viel Kontakt, soweit ich weiß. Die Eltern
sind tot. Es gibt einen Bruder, Georg Fromm. Er hat den Winzerbetrieb der
Eltern in Lorch übernommen. Sie hat sich mit ihm nicht gut verstanden,
allerdings weiß ich nicht, worum es bei ihrem Zerwürfnis ging.«
Mayfeld fragte nach Hollers Handynummer, die ihm Weisz
nannte. Dann hievte er sich aus dem Sitzsack in die Höhe und gab Weisz eine
Karte.
»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bei
mir.« Er öffnete die Tür. Draußen lauerte Mikesch. Mayfeld drehte sich noch mal
um. »Wie versteht sich Bobby eigentlich mit Findus?«
Weisz lächelte. »Sie meinen den Kater von Sylvia? Mit
dem versteht sich Bobby ungefähr so gut wie mit Mikesch. Wenn Bobby kommt,
nimmt Findus Reißaus und flieht. Auf einem Baum im Wald fühlt er sich dann
wohler als im Haus oder im Garten.«
Mayfeld verabschiedete sich. In der Küche im
Erdgeschoss traf er Bärbel. Sie bestätigte Sandors Angaben für den vergangenen
Freitag. Er war gegen achtzehn Uhr fünfundvierzig nach Hause gekommen. Sie
hatten zusammen zu Abend gegessen, dann sei jeder auf sein Zimmer gegangen.
Draußen vergoss die Sonne ihre letzten Strahlen über
das Land.
***
Kevin Möller legte das Telefon zufrieden auf die
Ladestation zurück. Jetzt war er dem Kumpel mit den guten Beziehungen zur
Kfz-Meldestelle einen Gefallen schuldig. Aber das Geschäft würde sich lohnen,
sehr lohnen. Er hatte die Halter der beiden Wagen.
Den ersten Namen gab er in die Suchmaske von Google
ein. Bingo. Der Typ hatte eine Website. Was er dort las, ließ sein Herz höher
schlagen. Der Mensch hatte offensichtlich viel Geld. Er betrachtete das Foto
des Mannes ganz genau und verglich es mit den Aufnahmen, die er vor ein paar
Tagen ausgedruckt hatte. Dann ließ er das Video, das er auf seinem Notebook
gespeichert hatte, noch einmal laufen.
An einer Stelle konnte man den Fahrer des Wagens genau
erkennen: Es war der Typ mit der Website und dem vielen Geld. Er kopierte die
Passage, in der der Wagen in den Wald einbog in eine Extradatei. Von diesem
Moment speicherte er ein paar schöne Standbilder. Dann ließ er das alte Video
noch einmal laufen. Auch hier erkannte er den Typen, kopierte die deutlichsten
Passagen in eine Extradatei und speicherte einige Standbilder.
Kevin schaute sich in dem schäbigen Zimmer um, in dem
er hauste. Bald würde er sich etwas Besseres leisten können als das miese
Zweizimmerappartement im Rotkäppchenweg: nie mehr Souterrain, nie mehr Möbel
aus Schweden oder vom Sperrmüll, nie mehr Essen aus Dosen. Nie mehr Autos
knacken. Mit dem Geld, das er verdienen würde, könnte er was Größeres
aufziehen.
Aber er musste vorsichtig sein. Mit dem Halter des
zweiten Wagens hatte er nicht gerechnet. Er musste sogar ganz verdammt
vorsichtig sein. Als Erstes musste er Annika anrufen und sie warnen. Annika war
leider ziemlich geschwätzig und redete andauernd irgendwelchen Müll. Jetzt
hatte sie eine gute Gelegenheit, mal die Klappe zu halten.
***
Scheiße, Scheiße, Scheiße. Das Monster hatte die
Zimmertür abgesperrt, und das Fenster war vergittert. Außerdem öffnete sich das
doofe Fenster direkt zum Wald hin, es hatte also wenig Sinn zu schreien. Hier
kam wahrscheinlich nur alle hundert Jahre jemand vorbei.
Trotzdem schrie sie, schlug gegen Fenster und Tür,
immer und immer wieder. Nichts bewegte sich. Und alles tat weh. Der Fuß, die
Hand. Selbst das Atmen tat weh.
Sie schaute sich in ihrem Verlies um: ein Bett, ein
Schrank, ein Schreibtisch und Regale an den Wänden. Möbel wie bei Oma und Opa,
voll aus dem Mittelalter. In den Regalen standen Bücher, sie las einige Titel.
Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Jacob und Wilhelm Grimm:
Deutsche Sagen, Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch, Hauffs Märchen. Jede
Menge Kochbücher. Neben den Büchern lagen ein großes Fernglas, ein Fernrohr mit
der Aufschrift »Nightvision« und ein Skizzenblock.
Daneben standen Einmachgläser mit Fischen, Fröschen,
kleinen Vögeln, eingelegt in einer komischen trüben Flüssigkeit, voll eklig.
Daneben lagen Wurzelhölzer, Steine, vertrocknete Blätter. In einem Glaskasten
waren Schmetterlinge
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