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Frau Holle ist tot

Frau Holle ist tot

Titel: Frau Holle ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Stark
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und andere Insekten aufgespießt. Eine Wand des Zimmers war
frei gelassen worden. Auf die Raufasertapete waren jede Menge Zeichnungen
gekritzelt, von Blumen, Bäumen, Waldlichtungen und Hütten. Und von Vögeln,
Vögeln und noch mal Vögeln.
    Es gab Notizen über den Zustand des Waldes: »Nach der
Schneeschmelze Wasserläufe neben dem Weg«. »Im Frühsommer viele tote Frösche
auf dem Weg zum Teich«. Manche Ansichten von Waldhütten, Bäumen und Lichtungen
existierten in verschiedenen Varianten und illustrierten den Wechsel der
Jahreszeiten. Dazwischen standen Namen von Vögeln, Kochrezepte und Zitate, vermutlich
aus den Märchenbüchern.
    »Königstochter, jüngste, mach mir
auf, weißt du nicht, was gestern du zu mir gesagt bei dem kühlen Brunnenwasser?
Königstochter, jüngste, mach mir auf.«
    »Heinrich, der Wagen bricht. Nein,
Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen
Schmerzen, als Ihr in dem Brunnen saßt, als Ihr eine Fretsche wast.«
    »Immer sagen sie: es gruselt mir!
es gruselt mir! Mir gruselt’s nicht: das wird wohl eine Kunst sein, von der ich
auch nichts verstehe.«
    »Knuper, knuper, kneischen, wer
knupert an meinem Häuschen?«
    Na toll, sie war einem Psycho in die Fänge geraten.
    Sie warf sich auf das Bett. Schon wieder plagten sie
die Scheißschmerzen. Irgendwann musste der Horrorfilm doch ein Ende haben, sie
wollte aus dem Traum aufwachen. Sie presste die Augen zusammen und öffnete sie
wieder. Aber nichts passierte, sie starrte immer noch auf dieselbe Zimmerdecke
mit den Wasserflecken. Tränen liefen ihr über das Gesicht, obwohl sie gar nicht
weinen wollte.
    Was war bloß passiert? Es blieb ihr wohl nichts
anderes übrig: Sie musste versuchen, sich zu erinnern. Film ab. Immer wieder
kippten die Bilder weg, dann tauchten neue auf, aber nach einer Weile fügten
sich die Filmschnipsel zusammen.
    Sie wollten zusammen abhauen. Annika war nicht zum
vereinbarten Treffpunkt gekommen, also fuhr sie zu ihr nach Hause. Als sie dort
ankam, war Annika so vollgedröhnt, dass sie kaum noch was Verständliches über
die Lippen brachte.
    »Halte dich von den Scheißbullen fern«, hörte Marie
sie lallen, »und von dem Arschloch.«
    Klar, ihr Alter war ein Arschloch, aber sie hatte gar
nichts kapiert. Annika hatte noch auf eine Stofftasche gezeigt und etwas
gemurmelt.
    »Nimm das mit. Wir machen sie fertig.« – Oder so
ähnlich. Dann war sie weggedreht, und Marie hatte den Notarzt gerufen. Danach
wurden die Erinnerungen verschwommener. Sie hatte die Wodkaflasche, die auf dem
Tisch stand, in die Tasche gepackt und Annika ein paar Minuten die Hand
gehalten. Aber das wurde ihr irgendwann zu öde. Außerdem wollte sie dem
Arschloch nicht über den Weg laufen.
    Als sie abhaute, hörte sie das Signal des
Notarztwagens. Anschließend brach die Erinnerung ab. Was war später passiert?
Antwort: Fehlanzeige, Bildstörung. Das Nächste, was ihr in den Sinn kam, waren
die völlig kaputten Träume mit dem Monster. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ihre
Gedanken verloren sich im Nebel.
    Irgendwann wachte sie wieder auf. Jetzt war sie doch
schon wieder eingepennt. Das Monster war weg, und sie verschlief die Zeit,
statt abzuhauen! Wie bescheuert konnte man denn sein? Hallo? Sie sprang aus dem
Bett.
    Das hätte sie besser bleiben lassen sollen. Ein fieser
Schmerz fuhr vom Knöchel durch das rechte Bein. Sie japste, aber das Luftholen
tat immer noch verdammt weh. Sie humpelte zur Tür, drückte die Klinke herunter.
Null Reaktion. Sie schlug gegen die Tür. Danach tat die Hand wieder weh. Sie
humpelte zum Bett zurück. Das alles hatte sie doch vorhin schon versucht.
    Du bist ein toughes Mädchen, hatte Annika einmal
gesagt, aber momentan fühlte sie sich überhaupt nicht tough. Eher völlig am
Arsch.
    Die Zeit verging. Sie weinte.
    »Plitsch platsch, plitsch platsch«, hörte sie eine
Stimme von draußen. Ein Schlüssel wurde herumgedreht, das Monster kam zurück.
    »Ach, du bist’s, alter Wasserpatscher«, sagte der
Riese, als er durch die Tür trat. Er grinste über beide Ohren. Er hielt ihren
Rucksack in die Höhe, griff hinein und holte ihr Handy heraus. »Die
Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte«,
rief er aus.
    Sehr komisch. Am besten cool bleiben. Oder noch
besser: ganz lieb gucken.
    »Kann ich den Rucksack haben? Und das Handy?«
    »Wie heißt das Zauberwort?« Der Monsterriese kicherte
und schüttelte die Hände, als hätte er sie sich

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