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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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nur, ob ich meinen Badeanzug mitnehmen solle oder ob es Pfingsten noch zu früh sei, um ins Wasser zu gehen. Sie sagte, sie würde keinesfalls in der Ostsee baden, aber ein paar Verrückte würden das sicher tun. Bevor wir uns verabschiedeten, sagte sie noch: »Mein Gott, Paula, für einen Moment fürchtete ich, du würdest absagen.«
    Am Pfingstsamstag fuhr ich mit der Bahn nach Ahlbeck. Sibylle war mit ihrem Auto zum Bahnhof gekommen, sie begrüßte mich so unbefangen herzlich, dass ich sieumarmte. Wir packten meine Tasche in ihr Auto und bummelten durch die Stadt, setzten uns in ein Café, wo sie von der Besitzerin mit Handschlag und Hallo begrüßt wurde, und aßen ein Eis. Anschließend fuhren wir zu ihrem Haus, das in Richtung des Oderhaffs lag. Es war ein abgelegenes altes Bauernhaus, ein sogenannter Ausbau, das Sibylle und ihr Mann vor zwanzig Jahren billig erworben und im Laufe der Zeit sehr komfortabel ausgestattet hatten. Die Außenfront hatten sie sorgfältig restaurieren und das Dach mit Schilf decken lassen, die Schäden an den kleinen alten Fenstern sowie der Eingangstür behutsam behoben, um das Haus wieder in einen Zustand zu versetzen, wie es ausgesehen haben musste, bevor der Vorbesitzer es mit billigen und pflegeleichteren Dachschindeln eindeckte. Innen aber war das Haus vollständig verändert worden. Die Einrichtung der Zimmer konnte als mecklenburgisch gelten, die Möbel hatten sie von einem ortsansässigen Tischler anfertigen lassen. Küche, Bad und Toilette aber waren hochmodern, die Fliesen stammten aus Finnland, die Armaturen und viele der Küchengeräte aus Westdeutschland und Frankreich, alles Länder, in denen Marco Pariani an Kongressen teilgenommen hatte oder wohin er mit Wirtschaftsdelegationen gereist war. Sibylle zeigte mir mein Zimmer im ersten Stock, sie selbst schlief unten, ich stellte nur meine Tasche ab, dann nahmen wir die Fahrräder und fuhren zum Haff, weil dort weniger Urlauber waren als am Ostseestrand, wie sie sagte. Wir versteckten die Räder unter einem Gebüsch und spazierten dann am Wasser entlang und später durch die Wälder. Wir redeten über meine Arbeit und die Abschlussprüfungen, irgendwie kam sie auf ihre Kindheit zu sprechen und erzählte mir in einem Zug ihr ganzes Leben.
    Sie war im Krieg geboren worden und meinte sich noch an die Bombennächte erinnern zu können, sie war damalszwei, drei Jahre alt. Ihre Eltern waren kurz vor Kriegsende nach Österreich gezogen, da ihr Vater aus Linz stammte und sie bei seinen Eltern hatten wohnen können. Anfang der fünfziger Jahre wurde ihrem Vater eine Hochschulprofessur in Ostberlin angeboten, die er umgehend annahm. Sie hatte in Weimar ein Architekturstudium angefangen, es aber abbrechen müssen, weil sie in den technischen und mathematischen Fächern versagte. Sie hatte dann gleich einen Kommilitonen aus demselben Studienjahr geheiratet. Sie erzählte nochmals, wie sie Pariani kennenlernte, von seiner Verliebtheit, seinen jungenhaften Einfällen, womit er sie, die viel jüngere Frau, immer wieder überraschen konnte. Dann hielt sie plötzlich inne, sah mich an und sagte: »Ich weiß eigentlich gar nichts von dir, Paula. Wo bist du aufgewachsen? Warst du als Kind glücklich?«
    »Nein«, sagte ich, »aber ich weiß gar nicht, ob es glückliche Kinder gibt. Ich glaube, alle Kinder sind unglücklich. Kindheit und Unglücklichsein, das ist wohl dasselbe.«
    »Bist du sicher? War es für dich so schlimm?«
    »Ja. Ich war nur unglücklich. Ich habe mit dem Malen angefangen, weil ich mich irgendwie retten musste. Die schönen Momente in meiner Kindheit, die hatten alle mit Malen und Zeichnen zu tun und mit der Musik. Wenn ich mich irgendwo für Stunden verkriechen konnte, wo mich niemand fand, wenn ich mit meinen Bleistiften und Wasserfarben loslegen konnte oder wenn ich am Klavier saß, dann war ich glücklich. Aber nur dann. Und vielleicht noch mit Kathi, mit meiner Schulfreundin. Der Rest, das war ein Elternhaus, in dem immerzu nach Fehlern gesucht wurde, Fehler gefunden wurden, in dem herumgeschrien wurde, eine Schulzeit voller Ängste, Angst zu versagen, Angst, sich lächerlich zu machen, ausgelacht zu werden. Am liebsten denke ich nicht mehr an meine Kindheit.«
    »Gab es keinen, der dich liebte?«
    »Meine Eltern waren damals sicher der Meinung, dass sie mich lieben, dass sie alles für mich tun. Sie hatten nur deswegen beständig etwas an mir auszusetzen, weil sie mir helfen wollten. Sie wollten mich erziehen,

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