Frau Paula Trousseau
bekam sein Diplom in meinem ersten Studienjahr, er hatte mich damals mehrfach angesprochen und eingeladen. Er tat sehr verliebt, aber das bedeutete bei ihm nichts. An der Schule hieß es, das Mädchen, in das sich Jorge nicht verliebe, sei noch nicht geboren worden. Er war jedoch kein Schürzenjäger, sondern immer nur unglücklich verliebt. In dem einen Jahr, in dem wirzusammen in Weißensee waren, hatte er jedenfalls keine feste Freundin. An der Schule war er ein Star gewesen, über ihn sprach man noch Jahre später in den höchsten Tönen, und nach dem Diplom wurde er Meisterschüler bei Tschörtner an der Akademie, Arbeiten von ihm waren auf der großen Kunstausstellung in Dresden zu sehen. Ich traf ihn gelegentlich, meistens bei irgendeiner Ausstellungseröffnung, und zweimal hatte ich eine Einladung in sein Atelier angenommen. Er hatte bereits ein richtiges Atelier, nicht nur ein Zimmer in der Wohnung wie ich. Ich hatte den Kontakt mit fast allen Kommilitonen nach dem Ende der Studienzeit abgebrochen, ich war ihnen aus dem Weg gegangen, aber Jorge schätzte ich und sah ihn gern.
Am dritten Mai bekam ich mit der Post seine Einladung zu einem Atelierfest in der Wohnung, das bereits vier Tage später stattfinden sollte. Er schrieb, es sei diesmal eine Finissage ohne Vernissage. Auf der Vorderseite der Karte war eine Grafik von ihm zu sehen, ein Bär, der mit einem Koffer über ein weites Land flog. Ich wollte zu dem Fest, denn ich ahnte, was er vorhatte. In jenem Jahr waren sehr viele Künstler in den Westen gegangen, und ich vermutete, dass auch er einen Ausreiseantrag gestellt hatte, und wollte mich von ihm verabschieden.
Als ich bei ihm in der Linienstraße eintraf, war die kleine Wohnung bereits überfüllt, einige kannte ich von der Schule. Jorge wollte tatsächlich am kommenden Montag, also in zwei Tagen, frühmorgens das Land für immer in Richtung Spanien verlassen. Er hatte alle eingeladen, die er noch einmal sehen wollte, und seine Finissage bestand in einer Versteigerung all seiner Sachen. Er wollte in Barcelona, der Stadt, aus der sein Vater stamme und wo dessen Familie noch lebe, einen vollständigen Neuanfang wagen und bot uns daher seine sämtlichen Arbeiten an, die aufgezogenen und gerahmten Bilder, die Blätterseiner Mappen, aber auch den gesamten Hausrat, denn er wollte nur mit einem einzigen Koffer ausreisen. Um Mitternacht hielt er sogar seine gebrauchte Zahnbürste hoch und erwartete ein Angebot, das er dann auch tatsächlich bekam.
Waldschmidt und die beiden Parianis erschienen, als das Fest im vollen Gange war. Ich war überrascht, Freddy zu sehen, ich wusste zwar, dass er Jorge Baumann schätzt, hatte aber nicht erwartet, dass er so viel Courage aufbrächte, sich von ihm zu verabschieden, zumal er zu meiner Zeit die Kollegen, die das Land verließen, als fahnenflüchtig ansah und abfällig über sie sprach. Waldschmidt war nicht erfreut, mich zu sehen, er war mit einer jungen Frau gekommen, vermutlich einer Studentin, begrüßte mich mit einem knappen Kopfnicken und wandte sich dann sofort ab. Die Parianis dagegen freuten sich aufrichtig, Sibylle umarmte mich, und beide erkundigten sich, wie es mir gehe und was meine Arbeit mache. Sie baten mich, sie doch wieder einmal zu besuchen, was ich auch versprach. Waldschmidt hielt den ganzen Abend Distanz zu mir und flirtete unentwegt mit seiner Begleiterin. Irgendwann aber stießen wir in der kleinen Wohnung doch aufeinander, denn als ich von der Toilette kam, verließ er gerade die Küche, und wir standen uns plötzlich direkt gegenüber.
»Ganz allein hier?«, erkundigte er sich herablassend.
Ich nickte.
»Und wie geht es dir?«
Ich behauptete, mir gehe es wunderbar, und sagte, als er nach meiner Arbeit fragte, ich hätte ausreichend Aufträge.
»So?«, fragte er ungläubig, »man hört aber nichts von dir. Wohnst du noch in Berlin?«
Ich erwiderte, ich wohne noch immer in Berlin.
Nach der Unterhaltung mit Waldschmidt wollte ich Jorges Wohnung rasch verlassen und versprach Sibylle, mich telefonisch zu melden. Dann drängte ich mich zu Jorge durch und umarmte ihn zum Abschied schweigend. Als wir einander losließen und uns ansahen, hatten wir beide Tränen in den Augen.
»In Barcelona wird für dich immer ein Zimmer bereitstehen«, sagte Jorge, »falls du mal Ausgang bekommen solltest.«
»Danke«, sagte ich, »die Einladung ist registriert und aufbewahrt für alle Ewigkeit. Weißt du, Jorge, ich möchte nie wieder einen Menschen auf
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