Frau Paula Trousseau
den Röcken der Mädchen hervor, stießen mit dem Vater an und wiederholten lachend dessen russischen Trinkspruch.
»Es lebe die Rote Armee«, rief er laut und schlug begeistert mit der flachen Hand auf den Wohnzimmertisch. Sein Schnapsglas kippte um, und der Wodka ergoss sich über das neuaufgelegte Tischtuch. Zehn Minuten vor fünf Uhr standen die beiden Russen auf und deuteten an, dass sie in die Kaserne zurückmüssten. Vater sagte, die beiden Mädchen sollten die sowjetischen Freunde bis zum Kasernentor begleiten, um ihnen die gebotene Ehre zu erweisen, aber Cornelia gelang es, ihm weiszumachen, dass die beiden Soldaten dieses Angebot abgelehnt hätten.
»Nächsten Sonntag kommt ihr zwei wieder zu mir«, sagte der Vater in der Tür. Die Soldaten erklärten mit einigen Worten und vielen Gesten, dass sie in den nächsten zwanzig Tagen keinen Ausgang haben, aber danach gern zu ihrem deutschen Freund kommen würden.
»In drei Wochen«, rief der Vater laut, der von dem ungewohnten Wodka angetrunken war, »ich verlasse mich darauf, Sascha und Wanja, hört ihr! Übersetze es, Cornelia, los!«
Als die Russen gegangen waren, rannten die Mädchen in ihr Zimmer, warfen sich auf die Betten und heulten. Sie gingen nacheinander ins Badezimmer, um sich zu waschen. Die Innenseite von Paulas Oberschenkel war mit blauen Flecken übersät.
10.
Meine Seminargruppe erfuhr erst drei Monate später, dass ich von Hans geschieden war und Cordula bei ihm lebte. Christine war entsetzt und begann zu weinen, was ich lächerlich fand. Cordula war nicht ihr Kind, es gab für sie überhaupt keinen Grund, sich so aufzuführen, und das sagte ich ihr auch.
»Du bist herzlos«, erwiderte sie und sah mich dabei verschreckt an.
»Nein, bin ich nicht. Ich bin nur nicht sentimental. Nun komm endlich, wir haben Plastik.«
Ich genoss die ersten Wochen, in denen ich allein lebte, ich stand auf, wann ich wollte, ich ging spazieren, wie es mir einfiel, ins Kino oder zum Tanzen, wann immer mir der Sinn danach stand. Ich hatte mich zuvor nie nach einer Vorlesung in ein Café setzen können. Es gab nur noch einen einzigen Termin für mich, eine einzige Dringlichkeit, eine Priorität, und das war ich selber.
Ich vermisste Cordula, ich vermisste sie jeden Tag und jede Stunde, und doch war ich erleichtert. Sie war mein großes Glück, und sie war eine ständige Belastung, die meine Kräfte überstieg. Cordula suchte mich Nacht für Nacht heim. Wenn ich endlich eingeschlafen war, schreckte ich auf, weil ich ihre Stimme hörte, weil ich ihre Hand spürte und ihren Atem, weil ich sie rufen hörte.
Sechs Wochen nach der Scheidung war ich nach Leipzig gefahren, um sie zu sehen. Ich hatte meinen Besuch nicht angekündigt, ich fürchtete, Hans würde sonst mit der Kleinen wegfahren. Als ich vor dem vertrauten Haus stand, zitterte ich vor Aufregung. Ich klingelte, ich hörte die Stimme von Hans, der irgendetwas rief, dann machte eine unbekannte junge Frau die Tür auf und fragte, was ich wolle.
»Guten Tag. Ich möchte Cordula sehen«, sagte ich.
»Und wer sind Sie? Kommen Sie vom Kindergarten? Oder vom Rat der Stadt?«
»Nein. Ich heiße Trousseau, ich bin die Mutter von Cordula.«
Die Frau kniff die Augen zusammen und fixierte mich, dann wandte sie sich um und schrie gellend: »Hans! Hans, komm bitte.«
Sie blieb in der Türöffnung stehen und schob die Tür ein wenig zu. Als Hans kam und mich sah, grinste er. Ohne mich zu begrüßen, schickte er die Frau ins Haus.
»Ja, bitte?«, fragte er, als wäre ich ein Hausierer.
»Guten Tag. Ich möchte Cordula sehen.«
»Das geht nicht. Sie ist heute bei ihren Großeltern. Du hättest dich anmelden sollen.«
»Dann gehe ich bei deinen Eltern vorbei. Ich möchte mein Kind sehen.«
»Aber ich möchte das nicht. Ich will nicht, dass du sie belästigt, sie nicht und mich nicht. Und dass du sie sehen willst, das ist ja ganz etwas Neues.«
»Ich habe ein Recht darauf, sie zu sehen.«
»Natürlich. Aber das muss angemeldet und verabredet sein. Es gibt Regeln, meine Dame. Haben Sie nie davon gehört? Man kann sich nicht für ein Kind nur nach Gutdünken interessieren. Einschalten und abschalten nach Belieben, so geht das nicht. Wenn man sein Kind liebt, geht man anders mit ihm um, Paula.«
»Ich höre sie doch, Hans. Sie ist hier. Bitte, lass mich rein.«
»Nein, tut mir leid. Sie ist nicht da, und ich lass dich nicht rein. Auf Wiedersehen. Oder noch besser: Lebe wohl.«
Er verschloss die Tür, und ich ging
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