Frau Paula Trousseau
dicht vor dem Apparat sitzend, einem Redner zu, der über die Auswirkungen der amerikanischen Truppenverstärkungen in Saigon sprach und der Ankündigung von China, im Gegenzug Freiwilligenverbände nach Nordvietnam zu schicken. Die Mädchen hatten das Radio so laut aufgedreht, dass ihr Vater die Tür aufriss und sie anschrie, den verdammten Kasten leise zu stellen. Er knallte die Tür zu, dann riss er sie nochmals auf und fragte sie bedrohlich nach ihren Hausaufgaben. Beide Mädchen sprangen zu ihren Schulranzen, holten die verlangten Hefte hervor, um sie ihrem Vater vorzulegen. Er sah sich die Hefte kurz an, schüttelte den Kopf und sagte schließlich: »Womit, gütiger Himmel, habe ich das verdient!«
Ohne ein weiteres Wort ging er aus dem Zimmer.
Clemens kam erst in der Nacht nach Hause. Cornelia erzählte ihm am nächsten Tag von dem Besuch der beiden russischen Soldaten. Er lachte und sagte, er habe sie zwar eingeladen, das aber nicht ernst gemeint, er könne sichsowieso nicht mit ihnen unterhalten, denn die würden kein Wort Deutsch verstehen. Die beiden Russen hätten auf der Festwiese dumm herumgestanden, seine Freunde hätten Witze über sie gerissen, und er habe ihnen ein Bier spendiert, um der Siegermacht mal zu zeigen, wer in Deutschland die Hosen anhat. Cornelia sagte ihm, dass der Vater sie für den nächsten Sonntag wieder eingeladen habe. Clemens zuckte mit den Schultern und grinste.
»Wenn es ihm Spaß macht. Er versteht doch kein Wort Russisch. Und den beiden habe ich ein paar kräftige Ausdrücke auf Deutsch beigebracht. Wenn sie die bei ihm loslassen, kippt er vom Stuhl, unter Garantie.«
Erst am Sonntagvormittag erzählte Vater Clemens, dass er am Nachmittag die beiden von ihm eingeladenen Soldaten erwarte.
»Und ich will, dass du da bist, wenn sie kommen«, sagte er zu Clemens, »du kannst nicht Gäste einladen und dann abhauen.«
»Ich denke, du hast sie eingeladen. Was soll ich mit den Russkis!«
Vater funkelte ihn wütend an, sagte aber nichts, und Clemens verschwand nach dem Mittagessen wortlos.
Pünktlich um drei klingelten die beiden Soldaten an der Tür. Sie hielten einen Strauß Nelken in der Hand, die offensichtlich nicht taufrisch waren. Vermutlich waren die Soldaten auf dem Weg zum Haus der Familie Plasterer am städtischen Friedhof vorbeigekommen und hatten die Blumen von einem Grab genommen. Mutter nahm sie gerührt entgegen und bat Cornelia, ihnen zu danken. Diesmal gab es einen Obstkuchen. Vater hatte wegen des Besuches der Mutter etwas Wirtschaftsgeld gegeben, und sie hatte sich zähneknirschend in die Küche gestellt und den bestellten Kuchen gebacken. Vater wies den Soldaten die Stühle zu, auf die sie sich setzen sollten, aber sei es,weil sie ihn nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, sie setzten sich neben Cornelia und Paula. Als die Mutter ihr Kuchenstück gegessen und den Kaffee getrunken hatte, stand sie vom Tisch auf und sagte, für sie gebe es noch zu tun, sie müsse sich entschuldigen. Der Vater nahm es zufrieden zur Kenntnis. Dann stand auch er auf und holte eine Flasche Wodka aus dem Wandschrank und drei Gläser. Er füllte sie und stieß mit den Soldaten an. Anschließend sprach er von der Rolle der Sowjetunion und der Roten Armee, die Hitler das Genick gebrochen habe. Er erklärte den Soldaten, welche Fehler Stalin gemacht habe, aber dass er dessen ungeachtet für ihn ein Held und Befreier bleiben würde. Zwischendurch forderte er Cornelia auf, das Gesagte zu übersetzen. Sie stotterte und murmelte einige Vokabeln, die beiden Russen schienen sie zu verstehen, jedenfalls nickten sie immer, aber vielleicht interessierten sie die Auslassungen des Schuldirektors nicht. Vater goss noch zweimal die Gläser voll und sprach voll Inbrunst den russischen Trinkspruch aus, die einzigen russischen Worte, die aus seiner Zeit der Kriegsgefangenschaft und des Umerziehungslagers geblieben waren.
Wenn ihr Vater sie zum Übersetzen aufforderte, brachte Cornelia die russischen Vokabeln nur stoßweise und mit schreckgeweiteten Augen hervor, was ihr Vater aber nicht bemerkte. Die Soldaten versuchten, eine Hand unter den Rock der Mädchen zu schieben. Die Mädchen konnten vor Schreck und Scham kaum atmen. Währenddessen sprach ihr Vater über die verbrecherischen Unternehmungen der amerikanischen Armee, die nur durch die Solidarität aller friedliebenden Kräfte zu verhindern seien. Erst als ihr Vater die Gläser nachgefüllt hatte, zogen die Soldaten ihre Hände unter
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