Frau Paula Trousseau
zum Bahnhof und fuhr nach Berlin zurück. In der Bahn heulte ich hemmungslos und ließ mich auch nicht von einer mitreisenden Frau beruhigen.
Professor Tschäkel, in diesem Semester hatte ich Grafik bei ihm, stellte sich eines Tages neben meinen Tisch, schaute lange auf das Blatt, an dem ich arbeitete, und bat mich dann, in seine Sprechstunde zu kommen. Ich erkundigte mich, worum es gehe.
»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Paula.«
»Es ist nur so, dass ich wenig Zeit habe, Herr Professor«, sagte ich.
»Fünf Minuten«, erwiderte er, »ich denke, Sie werden fünf Minuten Zeit für mich finden. Sagen wir morgen um elf?«
Ich meldete mich am nächsten Tag bei ihm. Ich kam eine Viertelstunde zu spät, er sollte nicht glauben, dass mir irgendetwas an einem Gespräch mit ihm läge. Er gab mir die Hand und sagte: »Machen wir eine preußische Eröffnung des Gesprächs, Paula. Ich mache mir Sorgen um Sie, Paula.«
»Das ist überflüssig, Herr Professor. Über mein Privatleben möchte ich mit Ihnen nicht reden.«
»Darum geht es nicht. Ich rede von Ihrem Studium, ich spreche von Ihren Arbeiten. Da gibt es neuerdings etwas, was mir nicht gefällt. Ich sehe eine Tendenz bei Ihnen, die mich verstört. Die mich unangenehm berührt. Es ist so ein harter Zug in Ihre Blätter gekommen, Ihre Zeichnungen wirken brutal. Als Sie zu uns kamen, hatten Sie bereits diese Neigung, aber es war auch Leichtigkeit und Spaß in Ihren Sachen zu sehen. Und die sind völlig verschwunden. Wollen Sie die Welt mit Ihren Blättern verbessern? Dann sollten Sie vielleicht etwas anderes studieren. Philosophie oder Wirtschaft oder Theologie, aber bitte nicht Kunst. Kunst ist nicht dafür geeignet. Wenn Sie predigen wollen, sollten Sie das Fach wechseln. Wenn Ihnen der Humor abhanden gekommen ist, dann sollten wir gemeinsam überlegen, welcher Beruf für Sie in Frage kommt, Paula. Mit einem Holzbein kommt der Artist nicht mehr aufs Seil, so ist das. Da muss er sehen, wie er seine Brötchen anderweitig verdient.«
Ich starrte ihn fassungslos an, ich verstand überhaupt nicht, wovon er sprach, und sah ihn wohl entgeistert an,denn plötzlich lächelte er aufmunternd: »Ich will Sie nicht fressen, Paula. Ich möchte Sie dazu bringen, dass Sie in aller Ruhe und ohne jedes Selbstmitleid sich über sich selbst klarwerden. Was Sie wollen, was Sie vorhaben und ob Sie sich möglicherweise auf einem falschen Weg befinden. Sie haben keinerlei Mitleid, Mädchen, Sie sind mitleidlos mit allen anderen Menschen, und aufgeschlossen nur für sich selbst. Sie sind ausschließlich um sich selbst besorgt. Auch wenn Sie glauben, dass Sie sich selbst gegenüber hart sind, das sind Sie nicht. Sie gehen rührselig mit sich um. Für einen Künstler bedeutet das das Ende.«
»Ich bin überhaupt nicht mitleidlos. Und ich habe Humor«, begann ich, aber Tschäkel unterbrach mich: »Lassen Sie es gut sein, Paula. Denken Sie darüber nach. Machen wir Schluss für heute. Auf Wiedersehen.«
»Sie sind unverschämt, Herr Professor. Sie knallen mir ein paar Ungeheuerlichkeiten an den Kopf, und dann werfen Sie mich aus dem Zimmer. Dass ich kein Mitleid habe, woher wollen Sie denn das wissen? Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von mir. Sie wissen doch gar nicht, wie ich bin. Woher auch?«
»Ach, Sie sind sensibel? Mitfühlend? Romantisch? Eine Mimose vielleicht?«
»Nichts wissen Sie. Überhaupt nichts.«
»Doch, Paula, ich kenne Ihre Arbeiten, und Ihre Arbeiten verraten Sie. Das ist nun einmal so in der Kunst, man kann sich dort nicht verstecken. Sie sind zartbesaitet. Sie haben viel Mitgefühl, allerdings nur für sich selbst. Ach, dass die sensiblen Seelen immer mit Stiefeln durch unsere Herzen marschieren. Wer sagte das noch? Sicherlich eine uralte Erfahrung. Und nun gehen Sie bitte.«
Ich war unglaublich wütend, doch ich beherrschte mich, stand auf und verließ schweigend und ohne ihn noch einmal anzusehen, das Zimmer. Auf dem Flur kammir eine Studienkollegin entgegen, die mich verwundert ansah.
»Alles in Ordnung, Paula?«, fragte sie.
Ich nickte und lief weiter, so schnell, dass mich keiner aufhalten konnte. Als eine alte Frau auf der Straße mich ansprechen wollte, drehte ich mich abrupt um und ging zum Eingang des Friedhofs der Georgengemeinde. Dort waren den ganzen Tag über kaum Menschen zu sehen, und die wenigen Alten, die sich dort aufhielten, schleppten ihre Gießkannen und hatten anderes zu tun, als sich um mich zu kümmern. Ich beruhigte mich und atmete
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