Frau Schick macht blau
unterwegs und vorerst nicht erreichbar.« Das sollte genügen. Wer ihn kennt, ist sein mitunter plötzliches Verschwinden gewöhnt. Auf diese Weise sind einige seiner größten Bucherfolge entstanden.
Herberger knipst das Licht aus, schließt ab, schultert den Rucksack und stapft die Treppe hinab. Nicht meditativ und entschleunigt wie heute Morgen, denn unten wartet ein Taxi. Seine wahre Pilgerschaft beginnt jenseits von Köln. Heute Nacht wird er – dank des nach wie vor aktiven Jetlags – sicher noch einige Kilometer schaffen. Ab morgen sollten es dann um die dreißig Kilometer täglich sein, wenn möglich mehr.
Mindestens einen Monat Zeit will er sich geben, in denen nichts zählen soll, nur Gehen, Gehen und nochmals Gehen. Er ist fest entschlossen, seinen Körper bis zur Schmerzgrenze zu fordern, sich zu piesacken und zu plagen, um seinem Gehirn die Selbstgespräche über Liebe und Verluste abzugewöhnen. Schritt für Schritt wird er beim Wandern alle Erinnerungen an Nelly abschütteln. Schmerzende Muskeln und geschundene, zu Tode gekränkte Füße haben die erfreuliche Eigenschaft, den Geist in der Gegenwart festzuhalten und die Sehnsucht auf ein Fußbad und ein bequemes Bett zu reduzieren. Das kennt er, das kennt er gut.
Herberger steigt mit knappem Gruß ins Taxi, nennt sein Fahrtziel.
Das Taxi gleitet in die Nacht, am Kölner Rheinufer vorbei Richtung Mitte, dann immer geradeaus über die Stadtgrenze hinaus. Am dunklen Himmel klebt fein wie eine Wimper der Mond, Sterne funken sich Geheimbotschaften zu.
Herberger atmet erleichtert auf. Der Rückweg zu sich selbst hat begonnen.
Ein Monat sollte reichen, um wieder ein freier Mensch zu werden, für den nur ein Gefühl zählt, das allerwichtigste Gefühl überhaupt: Ich lebe.
Der Taxifahrer folgt den Hinweisschildern Richtung Hürth. Herberger erklärt den Weg zum Polizeiparkplatz. Seine Reisschale ist leider erst dann vollständig geputzt, wenn er den Jaguar abgeholt und bei Frau Schick abgegeben hat.
Er will das ohne Aufsehen und ohne großen Abschied von der verrückten Eselsdiebin erledigen, die noch immer im Garten zu weilen scheint. In der Villa hat vor einer halben Stunde niemand abgehoben, und an ihr Handy geht nach wie vor nur Niklas.
In Hürth steigt Herberger in den Jaguar um und lehnt sich in die Lederpolster zurück. Unglaublich, was er in diesem Auto und mit Frau Schick schon alles erlebt hat!
Die Pyrenäenfahrt zum Camino fällt ihm ein. Frau Schick, die zart wie ein Schneeflöckchen auf der Rückbank ein Nickerchen hält, um als Drache wieder aufzuwachen und ihn vom Weg abzubringen. Gelegentlich unter Einsatz ihrer Nordic-Walking-Stöcke aus Titanstahl.
Herberger beugt sich unwillkürlich im Fahrersitz vor und näher zum Armaturenbrett. Kreuz und quer durch Spaniens Pampa hat Frau Schick ihn gejagt, damit er ihren Eingebungen folgt – hinein in baskische Wälder, über die Autobahnen der Meseta und als einsamen Nachtwanderer über Passhöhen bis zum Cruz de Ferro. Auf der Suche nach … Nelly!
Na wunderbar. Schon ist er bei dem Thema, das er meiden will, bis er feste Erde unter den Füßen spürt und geht.
Verflixte Nelly!
Herberger startet den Jaguar, setzt zurück und fingert auf der Suche nach Ablenkung am Autoradio herum. Melancholisches Gitarrenklimpern dringt aus den Lautsprechern, eine Männerstimme setzt ein. Herbergers Finger zucken zurück, als habe das Radio ihn gebissen.
»Ride on« , raunt der irische Barde Christy Moore.
Das Lied hat Herberger seit Jahren nicht mehr gehört. Seit Jahrzehnten. Es war einmal eine seiner Hymnen, das besungene wie rastloses Weiterziehen sein Lebensprogramm.
»Ride on« , wiederholt Moore und summt sich in ihm fest.
Guter Song. Unglaublich passend.
»Ride on« , verabschiedet Moore sich nachdrücklich von der Liebe, weil Weiterreiten, ohne jemals anzukommen, sein Lebensziel ist.
Herberger nickt erleichtert und lenkt den Wagen auf die Ausfallstraße Richtung Schrebergarten.
Ride on.
Das hat ihm immer gutgetan und ihn vorangebracht. Er hat sich nie lange irgendwo zuhause gefühlt, von seltenen Momenten abgesehen. Seine Gedanken streifen einen Olivenbaum und Herberger beinahe eine Baustellenabsperrung.
Rattatong, Rattatong, heißt ihn nur fünfhundert Meter weiter ein wohlbekannter Streckenabschnitt willkommen. Und die rote Ampel inmitten von Nirgendwo. Seufzend schaltet Herberger auf Schneckentempo zurück und bremst.
Christie Moore gelangt zeitgleich ans Ende seines musikalischen
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